Die üblichen Verbrechen

Götz Aly kritisiert erneut die Ausstellungspraxis des Berliner ethnologischen Museums, das nun bezeichnenderweise in der Schlossatrappe in Mitte untergekommen ist. Die Herkunft der Exponate, so sein Vorwurf, werde bewusst im Unklaren gelassen.

So schrieb er am 20. September in der FAZ:

Unter engagierter Mithilfe der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, zu der die Berliner ethnologischen Sammlungen gehören, verhinderten fast alle Direktoren ähnlicher deutscher Sammlungen die Veröffentlichung ihrer Objektverzeichnisse.

Üblich sei das

Ausbremsen moderner Erfassungsmethoden […] (Es fallen) bei schon vorliegenden Objektbeschreibungen die häufig inhaltsleeren, irreführenden oder unwahren Angaben auf, mit denen die Staatlichen Museen das Publikum an der Nase herumführen.

Als Beispiel führt Aly 142 Museumsobjekte auf, deren Herkunft die Verantwortlichen derzeit bewusst verschleierten. Sie seien, so die offizielle Angabe, anlässlich einer „Expedition“ ins Deutsche Reich gekommen.

Aly beschreibt, wie es sich wirklich verhielt:

1899 war das Kanonenboot „Möwe“ bei der Insel Pak, die zu den Admiralitätsinseln gehörte, für eine Strafaktion unterwegs. Bei Ankunft des Schiffes flohen die Bewohner ins Inselinnere und

die deutschen Herren begingen ihre üblichen Verbrechen: Um „den Kanaken einen fühlbaren Denkzettel zu hinterlassen, wurden die Dörfer niedergebrannt“ und auf beiden Seiten der Insel „die Kanus zerstört“. Vorher wurden aber aus dem reichen Bestand der Eingeborenen besonders wertvolle Gegenstände zur Überweisung an das Museum für Völkerunde in Berlin in Sicherheit gebracht.

Die erwähnten 142 Objekte kommen laut Aly „mit allergrößter Wahrscheinlichkeit“ von dieser Expedition. Im Wording gibt man sich heute gerne konziliant, doch würde man zugeben, dass all die Objekte auf Raub und Mord gründen, könnte man den Schlosskasten vermutlich gleich wieder zumachen.

Es ist ein Beispiel von vielen. Wobei das Verhalten der beteiligten Museen und Siftungen und sonstigem Gedöns nur konsequent ist: Zum aufgebauten Schloss gehört Kolonialismus, gehören erschlagene Eingeborene und gestohlene Kunstwerke. Das Schloss steht in exakt dieser Tradition und es nähme nicht Wunder, würde ein Großteil der Schlossbewürworter immer noch so denken: Den Kanaken eine aufs Maul geben. Es ist aus der Sicht der Opfer der kolonialisierten Gebiete und ihrer Nachfahren auch ein pikantes Zeichen: Wir bauen das absolutistische Schloss wieder auf, um genau darin die gestohlenen Gegenstände auszustellen. Darauf muss man erstmal kommen. Statt die geklaute Hehlerware zurückzugeben, demütigt man die Ex-Besitzer.

Man sollte nicht vergessen, wer sich seinerzeit für die Schlossattrappe ausgesprochen hat: der unsägliche Wolfgang Thierse zum Beispiel, der schon immer zu allem eine Meinung hatte, und Karl Lammert, der heitere Ex-Bundestagspräsident. Die Allianz und die Deutsche Bank betonten ihre Unterstützung, Antje Vollmer war dabei und Gerhard Schröder, der damit „dem Volk eine Seele geben“ wollte. Bemerkenswert, was ein Arbeiterführer im Spätkapitalismus so alles zu plappern bereit ist.

Es ist der feuchte Traum der Reaktion. Das DDR-Außenministerium wurde vorsorglich schon 1995 gesprengt, der Palast der Republik war etwas später dran, die Mitte Berlins muss unbedingt Puppenstube werden. Wobei dieser Begriff verharmlost, denn das Schloss steht eben nicht für das Spielerische, sondern für Rassenwahn, Sozialdarwinismus und deutschen Untertanengeist. Und für Imperialismus mit neuen Vorzeichen: Heute erledigen wir das diskret ökonomisch.

Die Rechtsradikalen um die junge freiheit freuten sich seinerzeit am offensten über den neuen Hohenzollernkasten, monierten aber die Nutzung. Sie haben recht: Eine dauerhafte Propagandaschau über Proissens Glanz und Gloria wäre ehrlicher.

Ich vermute, man arbeitet daran.

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Wahl 2021: Kommunisten auf Platz eins

Zumindest in Graz. Dort bekam die KPÖ 29 Prozent. Vielleicht sollte man auswandern.

(Foto: genova 2020)

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Die neue Mauer

„Heute haben wir die Möglichkeiten der Produktion so entwickelt und das Wissen um das Machbare so erweitert, dass eine sozialistische Gesellschaft in Freiheit nicht nur denkbar, sondern tatsächlich zu gestalten ist.“

Sagte um 1970 der SPD-Landesvorsitzende von Schleswig-Holstein, Jochen Steffen. Aus heutiger Sicht kaum zu glauben – zumal die DDR als warnendes Beispiel, wie man es nicht machen sollte – noch lebte. Allerdings trimmten auch damals schon Helmut Schmidt und Klaus von Dohnanyi die SPD auf Rechtskurs. Steffen verließ die SPD folgerichtig 1980.

Heute weiß man, dass Steffen recht hatte. Hätte man damals nicht begonnen, sich dem Sozialdarwinismus der Neoliberalen zu verschreiben, wir hätten eine bessere Welt. Statt Steffen kamen: Schmidt und Dohnanyi.

Dohnanyi ist der Prototyp des von der bürgerlichen Gesellschaft als intellektuell eingestuften Nichtdenkers, der auch im Alter keinen interessanten Satz zu sprechen vermag. Dennoch machte er in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten Talkshowkarriere. Steffen, der das linksradikale Element inhaltlich in die SPD zu holen versuchte, also damals die APO oder den SDS, kennt heute niemand mehr.

Schmidt und Donahnyi, zwei uninteressante rechte Politiker mit Arbeiterparteibuch, die heute vom rechtsbürgerlichen Establishment zu Ikonen erklärt werden. Es ist um das Intellektuelle in diesem Land nicht gut bestellt.

Die notwendige Allmacht des Kapitals zur Selbsterhaltung färbt auf alle Teile des Systems ab. Die Grünen probten mutig den Aufstand, wurden aber spätestens in den 1990er Jahren resignativ, die Linksradikalen durch Apostel wie Göring-Eckardt ersetzt. Die SPD ist seit Schröder bekanntlich komplett in den Neoliberalismus geschlittert. Einer seiner wichtigsten Protagonisten will nun Kanzler werden, indem er von Respekt redet.

Es ist alles eine einzige Lächerlichkeit. Will man sich über das Ausmaß der intellektuellen Katastrophe der sogenannten öffentlichen Diskussion informieren, reichen die 90 Minuten Wahlkampf vom vergangenen Donnerstagabend im öffentlich-rechtlichen TV. Sechs Leute sollen in 90 Minuten 15 Themen behandeln. Politiker plappern ihre Floskeln herunter. Die Moderatoren suggerieren kritische Fragen, deren Anlage schon die Unseriosität des Vorhabens zeigt. Es gibt formale eine Menge Unterschiede zur Meinungsdiktaktur der DDR, das Ergebnis ist eher noch schlechter. Das Format sorgt dafür, dass kein einziger Gedanke ausgeführt werden kann. Die wenigen Auseinandersetzungen sind pure Fassade. Es ist einerlei, ob man die Redefreiheit verbietet oder sechs Politiker zu solch einem Deppenformat zusammenruft. Ein Format, das keinerlei Erkenntnis ermöglicht, dafür dem tausendfach geäußerten Plappersatz die nächste Wiederholung ermöglicht. Ich vermute, dass TV-Wahlsendungen generell so angelegt sind. Vielleicht sind die Politiker aber auch von einer Angst vorm Wähler getrieben, die wiederum vom Gossenjournalismus von Bild etc. desinformiert werden. Jede falsche Geste, ein falsches Lachen oder eine zu lange Redepause kann die Demontage und Zerstörung des Innersten bedeuten.

Die scheinbar liberale Diskussionskultur ist so dermaßen auf wahrhaft demagogische Versatzstücke, auf „Das will ich gerne hinzufügen“ und „Das ist mir wichtig“ reduziert, dass auch der simpelste Gedanke der Befreiung des Denkens unmittelbar abgestraft wird. Beim Thema Gentrifzierung wird das besonders deutlich. In Berlin wurden in den vergangenen 20 Jahren 150.000 Wohnungen neu gebaut. Zusätzlich standen 2000 runde 150.000 Wohnungen leer. Die Einwohnerzahl ist im selben Zeitraum um gut 300.000 gewachsen. Dennoch fordern alle „mehr bauen“. Nicht einmal diese paar aufklärenden Zahlen lassen sich in solchen Diskussionsformaten unterbringen. Selbst das wäre schon radikal und visionär und also muss man zum Arzt gehen. Das Wirtschaftsystem der DDR war bei allen Unzulänglickeiten im Wohnungssektor um ein Vielfaches produktiver als das kapitalistische. Die Enteignungsdebatte in Berlin ist einer der ganz wenigen produktiven Ausreißer. Nicht, dass dieses Vorhaben das seligmachende wäre. Aber es ist der einzige Ansatz, der indirekt formuliert, dass die Gesetze des Kapitals angefochten werden müssen, will man eine Lösung.

Es ist nicht der „verengte Meinungskorridor“ das Problem, der von rechter Seite angeprangert wird. Es das im öffentlichen Bewusstsein verankerte Verbot, etwas anderes als das Faktische zu denken. Es reicht schon ein konstruktiver Gedanke über die Zukunft der NATO, um den Untergang Deutschlands heraufzubeschwören. Als Ersatz fungiert das politisch korrekte Wording. Annalena Baerbock sagt: „Bei dieser Wahl geht es um alles.“ Alles oder nichts. Vermutlich glaubt sie das tatsächlich.

Texte aus den späten 60ern und frühen 70ern lassen eine Intensität und eine Stimmung für Aufbruch erkennen. Jochen Steffen stellte den direkten Zusammenhang zwischen der denkbaren sozialistischen Gesellschaft in Freiheit und ihrer konkreten Gestaltung her. Dieser Zusammenhang ist durch eine Art ideologischer Mauerbau zerstört worden, skurrilerweise zeitgleich mit dem Verschwinden der Berliner Mauer. Ohne Mauer geht es nicht.

Man spürte bei den Worten Steffens, dass sich etwas änderte. Was sich dann änderte, war das Abdriften in den totalen Kapitalismus. Das nicht vorhergesehen zu haben, ist vielleicht die größte Unzulänglichkeit der damals Kritischen.

Wobei ein Unterschied zu heute ein objektiver ist: Die Schranken der Kapitalverwertung liegen jetzt näher. Man wird sehen.

(Fotos: genova 2021)

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Von der Problematik des Hummus-Essens

Darf man Nutella in Hummus mischen? Das hat kürzlich jemand in einem Video auf tiktok gemacht. Die Reaktionen waren aggressiv. Die „Hummus-Kontroverse“ ward geboren.

„Kulinarische Aneignung oder die Übernahme und Transformation von Gerichten funktioniert so ähnlich wie der Prozess der Gentrifizierung. Jemand kommt, nimmt sich etwas, verändert es ein bisschen und inszeniert es als etwas Neues und Hippes“, erklärt sie. „Dieses Vorgehen hat aber oft einen schalen Beigeschmack. Wenn solche Nahrungsmittel neu ,entdeckt‘ werden, ist das oft mit einem stark kolonialen Gestus verbunden“.

Das sagte kürzlich Meryem Choukri in jetzt, dem Magazin der Süddeutschen Zeitung, das laut Eigeneinschätzung darüber berichtet, „was junge Menschen jetzt bewegt: Aktuelles mit Tiefe“. Hoffen wir, dass das nicht stimmt, denn wenn das obige Zitat das Niveau junger Menschen demonstriert, sieht es nicht gut aus.

Um das kurz zu klären: Gentrifizierung bedeutet nicht, dass sich jemand etwas nimmt und als hipp inszeniert. Gentrifizierung bedeutet die Verwertung alter Bausubstanz und generell bestimmter Stadtteile mit vormoderner Struktur durchs Kapital. Gentrifizierung bedeutet die immer weiterzutreibende Verwertung von Immobilientauschwerten. Dazu ist es natürlich notwendig, dass es eine gesellschaftliche Tendenz hin zum Altbau und bestimmter Stadtteile gibt. Die aber setzte schon in den 1970ern ein, und zwar mit den Hausbesetzern und dem Denkmalschutz. Also Akteuren, die der Kapitalismusaffinität unverdächtig sind.

Dass Meryem Choukri den kapitalistischen Aspekt des Begriffs nur nebenbei thematisiert, ist kein Zufall, sondern im sogenannten politischen Denken dieser Leute immanent. Es geht um identitäres Denken. Wer Hummus variiert, diskriminiert Araber. Den „kolonialen Gestus“ könnte man natürlich als Argument anführen, aber nur in ökonomischer Perspektive: Nahrungsmittelkonzerne haben die finanziellen Möglichkeiten, vorkapitalistische kulinarische Traditionen ökonomisch für sich zu nutzen. Das ist problematische kulinarische Aneignung, zumal es da vor allem darum geht, dem traditionellen Gericht Zucker und Fett zuzusetzen und einen möglichst großen Profit herauszuschlagen. Der Profit hängt also direkt zusammen mit der Zerstörung unserer Geschmacksnerven. Oder genauer: Mit dem Anfüttern von Kindern mit Zucker und Fett und Geschmacksverstärker, auf dass sie zeitlebens willfährige Konsumenten des Supermarktdrecks sein werden. Man kann gute Gewinne mit Chrystal-Meth-Abhängigkeit machen oder mit durch industriell zugerichtete Nahrungsmittel zerstörtes Geschmacksempfinden. Dem Kapital ist es einerlei.

Humus weiterzuentwickeln ist aber nicht generell kapitalistisch, sondern Leben. Gerichte entwickeln sich weiter und fusionieren mit anderen Esskulturen, wir kreuzen Rebsorten, picken uns aus der asiatischen Küche das heraus, was uns schmeckt, und schätzen indische Küche in einer Form, die Inder als fad empfinden. In der Musik gibt der Jazz dem Rock den Takt, wenn man das so sagen kann, vor und traditionelle afrikanische Musik kommt plötzlich mit einem E-Bass daher. Das ist alles prinzipiell gut und kein Grund zur Sorge.

Choukri – laut jetzt „forscht sie an der University of Warwick und der Universität Gießen“ – traut ihrer Argumentation selbst nicht. Am Ende des Artikels sagt sie, dass sie grundätzlich nichts gegen die Fusionküche habe:

„Es ist schön, dass immer mehr Menschen unterschiedliche Gerichte kennen lernen können.

Um dann zu betonen:

Aber es gibt noch so viele Essenskulturen, die noch nicht präsent sind. Ich denke da an den afrikanischen Kontinent, zum Beispiel an ghanaisches Essen.“

Fusionküche ist offenbar erst dann erlaubt, wenn in Deutschland jede Esskultur der Welt vertreten ist. Man spürt hier das Bemühen, Probleme zu machen.

Die „Moderatorin, Bildungsaktivistin und Psychologin“ Helen Fares sagt im gleichen jetzt-Artikel, sie finde es wichtig,

mit bestehenden Rezepten und den Ursprungskulturen achtsam und respektvoll umzugehen, vor allem wenn Menschen aus diesen Kulturen in Deutschland von Rassismus und Diskriminierung betroffen sind.

Es ist dieser merkwürde Identitätssound, der stört. Man baut ein paar Begriffe ein (achtsam, respektvoll, Rassismus, Diskriminierung) und heraus kommt ein sinnloser Brei. Es wird ein Popanz aufgebaut, den ich zu beachten habe, bevor ich eine Portion Hummus esse. Praktisch unmöglich, aber mit dem wording kann sich die Aktivistin moralisch wunderbar überhöhen. Fares sammelt unter dem Hashtag #leavehummusalone neue Kombinationen, Hummus mit Kürbis beispielsweise. Das findet sie schlimm. Es geht um Reinheit, irgendwie. Auch Fares kommt beim Hummusthema auf schwergewichtige politische Begriffe:

Der Diskurs um Hummus symbolisiert für mich den Diskurs um Kolonialismus, Post-Kolonialismus und Gentrifizierung.

Mit Symbolen ist das ja so eine Sache. Auf der einen Seite geht heute alles, auf der anderen Seite ist ein Portion Hummus mit Nutella mit allen Übeln dieser Welt beladen.

Auffällig auch, dass die jetzt-Journalistin Sabrina Graf sich völlig unkritisch mit dem identitären Anliegen identifiziert und diese kuriose Sprache übernimmt. Sowas nennt man schlechten Journalismus. Es ist PR-Journalismus.

Diese Diskurse mögen Randphänomene sein. Sie beanspruchen aber die Verortung im linken Kontext. Wer dort sich zuhause fühlen möchte, sollte gewisse argumenative Mindeststandards erfüllen. Die #leavehummusalone-Fraktion reißt sie noch.

(Foto: genova 2021)

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o.T. 601

(Foto: genova 2019)

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Seltsames Berlin 13

(Foto: genova 2020)

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o.T. 600

(Foto: genova 2021)

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Bauen in Antwerpen und Bauen in Berlin

In Antwerpen wurde gerade ein Wohngebäude fertiggestellt, dessen Kaufbedingungen aufhorchen lassen: Kaufen darf dort nur, wer erstens bestimmte Einkommensschwellen nicht überschreitet und noch kein Wohneigentum besitzt. Das ist deshalb interessant, weil damit nur die Leute als Käufer infrage kommen, die dort auch tatsächlich wohnen.

So etwas wäre in Berlin und anderswo in Deutschland dringend nötig. Wohnungen nicht mehr als Betongold, sondern für etwas, was man in Berlin kaum noch kennt: Wohnungen bauen, um darin zu wohnen. Naturgemäß ist die Debatte hierzulande weit entfernt von diesem Niveau. Außer „mehr bauen“ fällt den Parteien im Wahlkampf – außer der Linkspartei – nichts ein. Es geht allen nur darum, die kapitalistische Verwertbarkeit des Bodens weiter zu erhöhen. Die Medien fallen als Korrektiv weitestgehend aus.

Was baut man derzeit in Berlin? Der Architekt Jürgen Mayer H. hat gerade eine Wohnanlage im Prenzlauer Berg zusammengestellt. Dicht, eng, wenige Balkons, klassische Arbeiterwohnungen für die ärmere Bevölkerungshälfte also. Die Ästhetik kann man ansprechend nennen oder einfach nur trendy. Eher rund als eckig, nichts, was interessant wäre. Man sieht weder Photovoltaik noch begrünte Dächer oder stattdessen ein Schwimmbad. Man sieht keine flexiblen Grundrisse. Man sieht dort nichts, was irgendwie nach ernsthafter Innovation, nach Ideen, nach Gedanken aussähe. Es ist nur Form. Mayer hatte auch schon gute Ideen, anderswo. Gibt man ihm ein Grundstück, auf das er Wohnungen stellen soll, also eine seriöse Bauaufgabe, fällt ihm nichts ein.

Mayer schreibt zu dem Bau:

Der Wohnkomplex fasst in jedem der Gebäude differenzierte Wohnungstypologien zusammen, die einer Segregation im Viertel entgegenwirken. 240 Einheiten mit 1-bis 5-Zimmer-Wohnungen richten sich an unterschiedliche Zielgruppen. Diese räumliche Konstellation ermöglicht die Bildung einer ausgewogenen sozialen Bewohnerstruktur aus Studenten, Familien, Singles, WGs und Rentnern.

Eine 5-Zimmer-Wohnung mit 133 Quadratmetern kostet 3.000 Euro warm an Monatsmiete. Das wirkt also der Segregation im Viertel nicht entegegen, sondern fördert sie. Daran ändern auch „differenzierte Wohnungstypologien“ nichts, was ohnehin nur bedeutet, dass es dort unterschiedlich große Wohnungen gibt. Die kleinsten sind übrigens nur 20 Quadratmeter groß. Die Miete liegt dann vermutlich bei 600 Euro.

Dichte und Lage weisen auf Arbeiterwohnungen hin. Die kapitalistischen Verhältnisse machen daraus eine Wohnung, bei der eine vierköpfige Familie 3.000 Euro für die Miete zahlen, also über ein Haushaltsnettoeinkommen von wenigstens 5.000 Euro verfügen muss. Mayers Geplapper erweist sich so schnell als falsch, dass man nicht weiß, ob man über seine Frechheit staunen soll oder über seine intellektuelle Unzulänglichkeit.

Bauherrin ist die Trei Real Estate, die Immobiliengesellschaft von Tengelmann.

Der Ausverkauf der Stadt geht munter voran und die bevorstehende Wahl zum Abgeordnetenhaus wird die Situation eher verschärfen. Die SPD-Kandidatin Giffey signalisiert Interesse an einer großen Koalition und will das Kapital weniger ärgern als die aktuelle Regierung. Giffey und Scholz  verstehen sich prima. Die Forderung nach „mehr bauen“ führt nur dazu, dass private Konzerne weiter zum Zug kommen. Nichts freut das Kapital mehr als die Forderung nach mehr bauen unter den gegebenen kapitalistischen Bedingungen. Es hat von Lindner bis Scholz seine Vertreter. Baerbock hat vor lauter nationalistischen Klimageschnatter sowieso den Kompass verloren.

Es läge an den ernsthaft linken Kräften in der Partei, diesen Weg zu boykottieren. Aber da ist wohl das Verlangen nach Pöstchen stärker. Man kann in diesem Land über Klima plappern und übers Gendern. Solange alles ungefähr und kapitalfreundlich bleibt, ist das kein Problem. Jeder Schritt raus aus dieser Sphäre ist verboten.

Nichts Neues also aus der Hauptstadt.

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Ein paar Bemerkungen zum Wahlkampf

Endlich eine sinnvolle Wahlkampfaussage:

Enteignung ohne Entschädigung – was denn sonst? Wenn diesem Vorhaben irgendwelche Gesetze entgegenstehen, dann muss man die eben ändern. Bei solchen Forderungen kommt reflexhaft der deutsche Kleinbürger zum Vorschein, der den depravierten Begriff von Eigentum und Freiheit von der FDP/AfD übernommen hat. Freiheit ist, wenn ich ausbeuten darf.

Überhaupt ist das ein skurriler Wahlkampf. Scholz legt zu, obwohl er nur redet und nichts sagt. Aber vielleicht mögen das viele: bloß keine Politik!

Scholz ist in gewisser Weise der würdige Merkel-Nachfolger. Er scheint wirksame PR-Berater zu beschäftigen. Eine komplette Kunstfigur. Ein typischer Scholzsatz bei einer Wahlkampfrede:

Wie können wir das hinkriegen, dass Klimagerechtigkeit in Deutschland herrscht? Ein Thema, das ja auch hier auf den Plakaten steht. Für mich gibt es dazu eine klare und sehr präzise Aussage. Wir dürfen nicht länger warten, wir müssen jetzt die Entscheidungen treffen, die dazu notwendig sind.

Eine völlig sinnlose und unpräzise Aussage ist für diesen Kameraden sehr präzise. Eigentlich erstaunlich, dass so jemand wachsende Zustimmung bekommt. Wie verzweifelt muss das Wahlvolk, wie man sagt, sein?

Interessant auch, dass Scholz gerne mit der FDP koalieren würde. Die Wahlprogramme widersprechen sich objektiv, was Mindestlohn, Steuererhöhungen für Reiche und Gentrifizierung angeht. Scholz weiß, dass er mit der FDP nichts von seinem Wahlprogramm umsetzen müsste. Genau deshalb will er die Zusammenarbeit. Scholz ist und war und bleibt neoliberal. Dass er zwölf Euro Mindestlohn fordert, zeigt einen gewissen Einfluss von Kühnert, Esken und anderen in der Parteispitze. Man wird sehen.

Teile der Medien erwecken die Rote-Socken-Kampagne von  1994 wieder zum Leben. Scholz macht freudig mit, indem er plötzlich die Frage nach einem Nato-Austritt zum zentralen Thema macht. Der Mainstream stimmt zu. Das Land ist nach wie vor reaktionärer, neoliberal verseuchter, als man annehmen möchte. Eine Politik der Linkspartei, die im günstigsten Fall gemäßigt sozialdemokratisch zu nennen ist, gilt heute als linksradikal.

Aufschlussreich die Reaktion auf die Afghanistan-Politik von Union, SDP, FDP und Grüne. Das Desaster ist offensichtlich: 13 Milliarden Euro verballert, tausende Tote, unzählige Kriegsverbrechen der westlichen Armeen und das Ergebnis: die Taliban übernehmen innerhalb von drei Tagen die Hauptstadt mit 4 Millionen Einwohnern. Verhasst sind in Afghanistan nicht die Taliban, sondern die Imperialisten. Wir müssen das nicht verstehen. Es müsste zum Rücktritt von Ministern führen und vor allem zu einer grundsätzlichen Debatte. Stattdessen: Die Bundeskanzlerin erklärt, dass man „hinterher immer schlauer als vorher“ sei. Es fällt schwer, einen banaleren Menschen zu finden als Merkel. Extreme Banalität gepaart mit extremem Machtwillen. So gesesehen ist Scholz ein würdiger Nachfolger im Amt. Gut möglich, dass es sich hier um Künstliche Intelligenz handelt. Vielleicht hängen ihm beim nächsten Triell ein paar Kabel aus der Hose. Wir sollten genau hinschauen.

Das große Thema ist nun aber nicht das völlige Versagen der genannten Parteien, sondern die Enthaltung der Linkspartei bei einer populistischen Abstimmung über die angebliche Heimholung von „Ortskräften“. Die Kräfte, die ein rot-grün-rotes Bündnis unbedingt verhindern wollen, sind stark. Nicht, dass man sich von solch einer Koalition allzu viel erhoffen sollte, es ginge um ein paar Milliarden Euro, die auf die andere Seite verschoben würden und vielleicht darum, dass ein oder zwei ernstzunehmende Linke die Posten von Parlamentarischen Staatssekretären bekämen. Doch schon das ist für die herrschende Ideologie ein Abweichen vom Pfad der Tugend. In Afghanistan herrschen die religiösen Ideologen, in Berlin sind es die neoliberalen.

In Kreuzberg lässt Scholz plakatieren, dass es mit der SPD „stabile Mieten“ gebe. Stabil bei 20 Euro, meint er vermutlich. Die SPD regiert in Berlin seit 20 Jahren ununterbrochen. Alleine in den letzten zehn Jahren hat sich die Miete bei Neuverträgen in weiten Teilen der Stadt mehr als verdoppelt. So geht SPD. Mit der rechten Giffey an der Spitze der Landespartei wird diese Entwicklung verschärft. Es ist ein interessanter Kampf bei den Sozialdemokraten, wie man sagt. Auf der einen Seite die Kühnert-Fraktion, der man ernsthafte Veränderungen zutraut. Auf der anderen Seite die alten Schröderkräfte, die ihre rechte ideologiegetriebene Politik im Dienste des Kapitals um keinen Preis aufgeben wollen. Die Medien sind im Wesentlichen emotionale Debattenaufheizer. Man schaue sich ein „Triell“ an. Es ist ein einziges intellektuelles Desaster. So was nennt sich in Deutschland Profijournalismus.

Alleine die CDU wurde von der Immobilienwirtschaft mit mehr als fünf Millionen Euro geschmiert. „Parteispenden“ nennt man das. Zu Kohls Zeiten hieß es „Pflege der politischen Landschaft“. Diese legale Korruption ist für die Qualitätsmedien auch kein Thema. Man fragt sich, was für eine Journalistengeneration da nachwächst.

Wobei es nicht nur die Journalisten sind. Der Spiegel stellte kürzlich (Heft 32, 7.8.) eine Bundestagskandidatin der FDP vor: Noreen Thiel ist 18 und depressiv. Warum sie bei der FDP ist? „Mir gefiel die Kritik am Bildungsförderalismus.“ Mit 14 trat sie den Jungen Liberalen bei. Was sie politisch will? Deutschland müsse „moderner und digitaler“ werden, und Politiker sollten „mehr Billie Eilish wagen“. Auf ihrem Youtube-Kanal erzählt Thiel, dass sie „Nutella ohne Butter“ verzehrt. Für Wirtschaftspolitik interessiere sie sich kaum, schreibt der Spiegel weiter. Mehr Inhalt findet man nicht. Solche Leute wollen zu den 700 gehören, die 80 Millionen vertreten. Vielleicht ist die intellektuelle Auszehrung der Parteien das eigentliche Problem. Bundestagsdebatten sind weitgehend Realsatire. Es gibt haufenweise gute gesellschaftliche Debatten. Aber nicht dort, wo die Gesetze gemacht werden.

Die Linkspartei kommt nicht aus dem Quark. Warum? Wissler könnte provokativer, kämpferischer auftreten. Stattdessen lässt sie sich in TV-Interviews in die Ecke drängen. Offenbar haben heutzutage alle Angst vor einem falschen Satz. Der Baerbock-Effekt. Es ist die totale Angepasstheit. Ich könnte mir vorstellen, dass freche linke Thesen Gehör fänden. Den Bonzen das Geld wegnehmen: Ja, was denn sonst? Was stattdessen stattfindet, ist eine unbewusste Anpassung an ein angenommenes Spießermilieu – wo sich die angeblichen Antagonisten „Linksliberale aus dem Prenzlauer Berg“ und Kleinbürgertum vereinen.

Den geistigen Zustand unserer Eliten sieht man auch daran, dass den streikenden Lokführern vorgeworfen wird, der Streik verletze „die Interessen von Bahnkunden und dem Klima“. Man ist sprachlos. Auch der DGB-Chef Hoffmann fällt den Arbeitern in den Rücken. Es gehe den Lokführern „um partikulare Interessen“. Ist ein Arbeiterführer wie Hoffmann etwas anderes als das völlige Scheitern jeglichen linken Bewusstseins? Müsste der Typ nicht sofort zurücktreten? Die taz schreibt ganz richtig:

Wer in Deutschland streikt, erfährt mehr Wut als Solidarität. Tief verwurzelt ist der Neid auf alle, die es wagen, für ihre Forderungen einzutreten […] Der Streik berührt unsere verdrängten Wünsche. Während wir wie blöde weiterackern, wagen andere das Unverschämte: Arbeitsverweigerung! Das allein ist schon ein mutiges „Fuck you“ an die stetig ratternde Leistungsgesellschaft.

Wir leben  in einer angepassten und verseuchten und angstbesetzen Nation. Wäre sie angenehm, fände ein Plakat wie das oben Zustimmung. Ein Linksruck, der seinen Namen verdiente. Stattdessen sorgt sich Friedrich Merz um die Konkurrenzfähigkeit der „deutschen Wirtschaft.“ Deutschland eben.

(Foto: genova 2021)

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Domenig in Ossiach: Dekonstruktivismus auf die Spitze getrieben

Kärnten ist unangehm. So der sofortige und unmittelbare Eindruck, wenn man an dieses österreichische Fleckerl Land denkt. An international bekannten Seen werden schlechte Vorabendserien gedreht und es gibt überall Kitsch und ein Faschist war dort Gott und Gott ist dort Kitsch. In Kärnten habe die Entnazifizierung nie stattgefunden, die meisten seien einfach in die Sozialdemokratische Partei gewechselt, schrieb der Spiegel vor zwei Jahren. Immerhin haben Rechtsradikale nur noch gut 20 Prozent statt vormals gut 40.

Wie Kärnten wirklich ist, weiß ich nicht, denn bei meinem letzten Österreichbesuch habe ich das Fleckerl naturgemäß in hohem Tempo durcheilt. Neben dem also durch und durch unsymphatischen Kärnten liegt die durch und durch sympathische Steiermark mit leeren Tälern und Hochburgen der Kommunistischen Partei. Dort lohnt das Aussteigen.

In Kärnten steigt man nur am Ossiacher See aus.

Dort baute Günther Domenig ab 1982 sein Steinhaus. Es sollte 31 Jahre dauern, bis es fertig war:

 

Ein großer und extrem zerklüfteter Kasten aus Beton, Stahl, Draht und Blech. Man kann das dekonstruktivistisch nennen. Ein großer Kubus wurde konsequent so beschnitten, dass nur noch das übrig bleibt, was man braucht. Es ist eine radikale und angenehme Form der Architektur, eine Außenseiterposition, die sich leider nie durchgesetzt hat. Der Besucher kommt nur langsam voran, will er die Eindrücke verarbeiten. Selbst nach drei Stunden hat man den Eindruck, einen nur unvollkommenenen Eindruck zu haben.

Das Raumgefühl ist ein betörendes. Mit jedem Schritt, sei er auch noch so klein, ändern sich die Perspektiven, die Aussichten, es ändert sich auch das Gleichgewichtsgefühl. Jeder Perspektive, jeder Schnitt, Das Vertraute aus heutiger Sicht sind die typisch dekonstruktiven Elemente, der Sichtbeton, der Stahl. Das wirkt heute nicht revolutionär, 1982 wohl schon noch. Ein Zeichen dafür, dass sich diese Materialität durchgesetzt hat.

Mir scheint diese Form der Beschneidung des Kubus authentisch, nicht aufgesetzt. Die Formen haben inhaltlichen Sinn. Großzügige Räume im Erdgeschoß, schmale Wege und Treppen weiter oben, wo man nicht mehr Platz braucht. So gesehen könnte man den Dekonstruktivismus als konsequente und radikale Weiterentwicklung strukturalistischer Architektur interpretieren. Nicht umsonst sieht man Gemeinsamkeiten zwischen Poststrukturalismus und Dekonstruktivismus, wenn letzterer nicht gar einfach eine Untergruppe des ersteren darstellt. Es ist eine Innerlichkeit, die so deutlich sich artikuliert, dass sie radikal extrovertiert sich präsentiert. Domenig nannte den Bau „mein Körper, mein Fühlen, mein Denken“.

Vier Jahre brauchte Domenig, um die Baugenehmigung zu erhalten. Heute steht der Kasten unter Denkmalschutz. Vielleicht auch nur, weil er sich touristisch vermarkten lässt. Ein Fremdkörper in Kärnten.

Einzig das Schlafzimmer hinterlässt ein zwiespältiges Gefühl. Will man dort nächtigen? Oder Sex betreiben? Da ich dort beides nicht praktiziert habe, enthalte ich mich eines Urteils. Andererseits: Gewohnt hat noch niemand dort. Es ist ein Veranstaltungshaus und vor allem eins, das man besichtigt. Wie gesagt, mindestens drei Stunden.

(Fotos: genova 2019)

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o.T. 599

(Foto: genova 2021)

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o.T. 598

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Seltsames Berlin 12

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o.T. 597

(Foto: genova 2017)

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o.T. 596

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o.T. 595

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o.T. 594

(Foto: genova 2016)

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Giancarlo de Carlo (2) – Ausflug nach Terni

Giancarlo de Carlo hat eine Universtität in Urbino gebaut – hier beschrieben – und eine Wohnsiedlung in Terni, runde 100 Kilometer nördlich von Rom.

Die Siedlung wurde von 1969 bis 1975 errichtet und war viel grlßer geplant. Tatsächlich gebaut wurde nur der kleine Teil im Modell ganz rechts – 240 von 840 Wohnungen. Man verzichtete, weil das tonangebende Stahlwerk in Terni in den 1970ern in Probleme geriet und der vermutete Zuzug an Arbeitskräften sich nicht einstellte.

Gebaut wurde eine strukturalistische Siedlung. Das bedeutet erstens Anwohnerbeteiligung, zweitens eine Planung von innen nach außen und drittens (schon damals) eine Separierung des Autoverkehrs.

Zur Partizipation sagte de Carlo:

Ich habe das fast bei allen meinen Arbeiten versucht – und ich habe, je nach den Umständen, mehr oder weniger Erfolg gehabt. Am besten ist es beim Bau einer Arbeitersiedlung in Terni gelungen, wo es mir gelungen ist, den Bauherren die Partizipation richtig aufzudrängen, und ich habe gemeinsam mit den Arbeitern die Wohnungen erörtert … Das dauert viel länger, es kostet viel mehr und es wird vor allem scheel angesehen … Natürlich haben die Leute nicht immer recht – aber es öffnen sich einfach andere Perspektiven und die Möglichkeit zu größerem Reichtum. (archplus 57/58, Juli 1981)

Wie diese Partizipation aussah, beschrieb eine Mitarbeiterin:

„Während ich mit den zukünftigen Nutzern sprach, zeichnete De Carlo. Er fertigte hunderte von Skizzen an. Es war faszinierend zuzusehen, wie die Idee Form annahm.“ (aus: werk, bauen + wohnen, 12/2018)

An anderer Stelle sagte de Carlo:

Es braucht keine Theorie der Partizipation, sondern (…) Energie, um aus der Autonomie herauszukommen», um sich «die Hände dreckig zu machen», um sich mit dem Ort zu «infizieren». (zitiert nach werk, bauen + wohnen, 12/2018)

Das sind gute Selbstbeobachtungen: Nicht der Architekt als scheinautonomer Künstler ist gefragt, sondern einer, der Macht abgibt, und zwar an die, die mit den Ergebnissen der architektonischen Arbeit leben müssen. Der lächerliche Begriff der Autonomie, den sich viele Architekten gerne anheften (der unsägliche O. M. Ungers fällt da ein) ist für de Carlo einer, der als Makel anhaftet. Stattdessen: die Hände dreckig machen, indem man sich mit Leuten abgibt, die keine Ahnung haben und zugleich die besten Experten sind: die Bewohner. Die dreckigen Hände und das Infizieren mit dem Ort, die Kontamination mit dem Minderwertigen bringt das beste Ergebnis.

Leider finde ich keine O-Töne der künftigen Bewohner, insofern bleiben hier Fragezeichen. Wem das Baugelände gehörte und inwieweit die auch in Italien damals allgegenwärtige Bauspekulation in Terni eine Rolle spielte, bleibt leider unentschlüsselt.

Die Bilder zeigen eine typische Strukturalismus-Siedlung:

Eindrücke eines Spaziergangs: Der vorherrschende Baustoff ist naturgemäß Beton, im Stil der Zeit unverkleidet. Der Beton ist durchweg skulptural eingesetzt. Es fehlen massive Wände, Barrieren, abweisende Zonen. Pflanzen, Grünzeug, mediterrane Bäume schaffen eine Atmosphäre, die das Schroffe des Betons zurücktreten lässt. Vermutlich alle Wohnungen haben Balkone und viele größere Freiflächen davor. Freiflächen, zu denen prinzipiell alle Zugang haben, was in der Praxis sich aber auf die Bewohner von drei, vier oder fünf Wohnungen begrenzen dürfte. Überhaupt sind die Freiflächen wohl das Geheimnis der Siedlung. Die Eingangssituationen sind nicht beengt, sondern jederzeit erweiterbar, indem man etwa Blumen dort postiert oder einen Stuhl. Es steht nichts im Weg.

Autos sind im Untergeschoß oder im Erdgeschoß geparkt, von wo aus man direkt nach oben in die Wohnungen gelangt.

Es ist eine Wohnanlage, deren Größe man nirgendwo spürt, weil man permanent auf eher schmalen Wegen unterwegs ist. Es ist eine Neuinterpretation eines italienischen Dorfes, das auch noch mit kleinen Wegen, mit menschlichem Maß arbeitete.

Die Siedlung ist bis auf wenige Ecken sehr gepflegt, kein Vandalismus, kein Müll. Sie scheint zu funktionieren. Die wenigen Leute, mit denen ich dort sprach, äußerten sich rundum zufrieden. Bemerkenswert auch: Es gab seit den 1970ern fast keine baulichen Veränderungen. Die Leute scheinen zufrieden, die Langzeitqualität ist gegeben.

Aus heutiger Sicht könnte man bemängeln, dass die Siedlung etwas außerhalb liegt und dort deshalb niemand ohne Auto wohnt – zumal es dort auch schnell hügelig wird. Es gibt direkt im Viertel auch keine Läden, was zu einer ziemlich ruhigen Atmosphäre führt. Auch die Passegiata am späten Nachmittag findet dort wohl nicht statt. Und der Clou wären Schwimmbäder auf den Flachdächern, was im sozialen Wohnungsbau in Wien zum Standard gehört. Das alles hängt damit zusammen, dass, wie gesagt, aufgrund außenliegender wirtschaftlicher Zusammenhänge, nur ein Bruchteil der geplanten Gebäude realisiert wurde.

Dennoch finden wir hier ein Stückchen Architektur und Städtebau, das einzigartig ist. Es ist wie mit aller strukturalistischen Architektur: Es war eine kurze Zeit, in der hervorragende Ideen realisiert wurden: Weg vom Bauwirtschaftsfunktionialismus, hin zu einer partizipativen Architektur, die den Begriff des Funktionalen wieder an dessen Ursprüngen in den 1920er Jahren orientierte, also kleinteiliger, an die konkrete Lösung denkend. Es war eine Architektur, die schwieriger zu verwirklichen war, wenn man an die Mitsprache der künftigen Bewohner denkt. Aber schon deshalb nachhaltiger. Strukturalismus bedeutete auch nie nur Architektur, sondern immer Architektur und Städtebau zusammengehörig.

Es ist eine Architektur, die im Weiteren vergessen wurde. Auffällig ist heute, dass diese Phase in der Architekturgeschichtsschreibung nicht vorkommt. In der offiziellen Lesart wurde der Bauwirtschaftsfunktionalismus von der Postmoderne abgelöst. Aktuell schiebt sich in der Geschichtsschreibung noch der Brutalismus dazwischen. (Wobei dieser Begriff sich als sinnlos erweist. Die Matteotti-Siedlung wird heute gerne als brutalistisch bezeichnet. Allein: Diese Kategorisierung sagt nichts aus.)

Strukturalistische Architektur gab es in ganz Europa und hier im Blog lassen sich viele Beispiele finden. Es ist eine Architektur, die heute notwendiger denn je wäre, aber vielleicht angesichts der rechten, reaktionären Tendenzen hierzulande ferne denn je ist. Betrachtet man sich eine durchschnittliche deutsche Neubausiedlung, erkennt man die große und übergroße Architektur- und also Geisteskatastrophe, in die wir schon längst geschlittert sind.

Man kann an der Matteotti-Siedlung auch ganz gut die beiden grundlegenden Möglichkeiten architektonischen Gestaltens aufzeigen: Einerseits die erwähnte Partizipation de Carlos, andererseits der Künstlerarchitekt, der sich für ein Genie hält und von einer authentischen Öffentlichkeit nicht gestört werden will. Eine diesbezügliche Unterscheidung in der Architekturgeschichte harrt noch der Dinge.

(Fotos: genova 2019)

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Was vermutlich meist zutrifft:

(Foto: genova 2019)

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Prachtboot und Schokolade

Prachtboot

Manchmal gibt es gute Nachrichten. So schrieb kürzlich der Spiegel über das Berliner Stadtschloss:

Warum das Fake-Schloss in seiner jetzigen Form nicht zu retten ist

Das Humboldt-Forum sollte zu einem neuen Zentrum der Weltkultur werden. Doch an vielen der geraubten Kunstwerke klebt Blut. Kolonialverbrechen werden bis heute systematisch verharmlost.

Über diese Kolonialverbrechen hat der Historiker Götz Aly nun ein Buch verfasst („Das Prachtboot. Wie Deutsche die Kunstschätze der Südsee raubten“, 242 Seiten). Das „Prachtboot“ soll tatsächlich prominent am Eingang des neuen Museums stehen. Über das Buch berichtet der Deutschlandfunk:

Götz Aly hat einen persönlichen Zugang zu dem Boot: Sein Urgroßonkel Gottlob Johannes Aly war zeitweise Militärgeistlicher der Kaiserlichen Kriegsmarine und nahm an einigen Eroberungsfahrten in die Südsee teil. Und zwar in die damalige deutsche Kolonie Deutsch-Neuguinea und in den Bismarck-Archipel. Heute gehört beides zum Staatsgebiet von Papua-Neuguinea.

Die deutschen Kolonien dort waren streng organisiert. Die Kokosplantagen-Besitzer konnten über ihre einheimischen Arbeiter wie Sklaven verfügen. Götz Aly beschreibt, wie die Einwohner der Inseln schon unter „normalen“ Bedingungen unter der Herrschaft der Europäer litten. Diese schleppten Krankheiten wie Masern und Syphilis ein, dazu kamen die Zerschlagung der gut funktionierenden Subsistenzwirtschaft und die Verpflichtung zur Arbeit auf den Plantagen.

Wehrten die Einheimischen sich, wurden Strafexpeditionen der Kriegsmarine angefordert. Eine der schrecklichsten fand 1882 statt. Ihr Ziel waren die Hermit-Inseln, deren größte mit etwa sechs Quadratkilometern die Insel Luf ist.

Innerhalb weniger Wochen töteten die Deutschen dort einen Großteil der Bevölkerung, die überlebenden Männer verschleppten sie als Arbeitssklaven auf Plantagen, die Hütten und die großen hochseetauglichen Boote der Menschen wurden zerstört.

Den Eroberern folgten die Kunsträuber. Berliner Ethnologen, die in ihrer Gesinnung zwar keine Rassisten waren – Felix von Luschan vom Berliner Völkerkundemuseum betonte beispielsweise immer wieder die Gleichwertigkeit von Völkern –, kauften gerne von den Militärs und den Plantagenbesitzern, wohl wissend, dass diese sich die Kunstschätze meist nicht legal aneigneten.

Alles in allem ganz gewöhnliches deutsches Verhalten also.

Überhaupt rezensierte die Fachwelt das Buch einhellig positiv.

Deutsche „Vergangenheitsbewältigung“ geht heute so: Man baut das Schloss der herrschenden Klasse wieder auf, das für den Massenmord und die Versklavung verantwortlich war und stellt das geraubte Prachtboot hinein, dessen Geschichte man absichtlich verschweigt. Die Verantwortlichen haben die Hintergründe verschwiegen, die dank Aly nun ans Licht kamen.

Deutsche Traditionen. Man erkennt an solchen Verhältnissen, wie reaktionär dieses Land nach wie vor ist, jenseits der Heuchelei. Alleine der Anspruch, ein „Zentrum der Weltkultur“ zu sein, ist ein typischer Auwuchs deutsch-dämlicher Zwanghaftigkeit. Wir sind die Besten der Welt. Was denn sonst?

Schokolade

Ein paar Naive freuen sich über sanfte Sprachregelungen, ansonsten gehen die Geschäfte wie gewohnt weiter. Von einer Tafel Schokolade, die wir hier für einen Euro kaufen, bekommen die Kakaobauer in Westafrika sechs Cent, las ich gerade. Die Wahrscheinlichkeit, dass den Kakao Kinder geerntet haben, ist hoch. Dafür hat Bahlsen seine Waffelsorte Afrika in Perpetum umbenannt. Sogenannte Linke hatten sich beschwert, der Name Afrika sei rassistisch. Bahlsen versicherte:“Wir nehmen eure Meinungen und die Kritik sehr ernst“.

Fast schon lustig: Bahlsen verringerte bei der Umbenennung die Füllmenge. Die Verbraucherzentrale Hamburg hat eine versteckte Preiserhöhung von 34 Prozent berechnet. Es ist davon auszugehen, dass sich der Bahlsen-Gewinn um 34 Prozent erhöht hat, die Bezahlung des Bauern gleich geblieben ist. Die Markenbindung junger Menschen an Bahlsen hat dennoch zugenommen, vermute ich. Bahlsen hat sich schließlich proaktiv gegen Rassismus gewandt. Und aus dem PR-Desaster von vor ein paar Jahren gelernt.

Das Bahlsen-Beispiel ist so bezeichnend, dass man es in Schulbüchern erwähnen sollte: So funktioniert Kapitalismus unterm Signet der politischen Korrektheit.

Der Massenmord an Menschen in der Südsee wird heute allgemein bedauert. Die Ausbeutung auf Basis kapitalistischer Verwertungslogik ist intensiver denn je. Antirassist*innen freuen sich über ihnen genehmes wording.

Es läuft.

Angesichts der unzähligen Äußerungen von Politikern in den vergangenen Jahren, wonach man „Afrika“ unterstützen müsse, damit die Flüchtlingsströme versiegen, sollte man sich über den Zusammenhang zwischen dem Talkshowdauergeplapper und dem effektiven Ergebnis (=0) Gedanken machen. Reden (und Sprachkorrekturen) als Ersatzhandlungen sogenannter liberaler Gesellschaften.

Aber das führte jetzt zu weit.

(Foto: genova 2019)

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o.T. 593

(Foto: genova 2021)

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o.T. 592

(Foto: genova 2019)

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Christoph Mäckler und die Ideologie

Ich halte ideologische Fragen in der Architektur, im Städtebau, aber auch in der Politik für völlig unangebracht.

sagte der Architekt Christoph Mäckler jüngst, wie man sagt, im Interview mit der Frankfurter Rundschau. Wer ist Mäckler und was ist für ihn Ideologie? Im Folgenden mäandern wir ein wenig.

Christoph Mäckler ist ein arrivierter Architekt mit Büro in Frankfurt und hat schon viel gebaut. Darunter allerdings solch problematische Sachen wie 1994 das neokonservative Lindencorso in Berlin:

Es ist typische Stimmann-Architektur. Der Architekturkritiker Gerhard Matzig schrieb damals in der Süddeutschen Zeitung, das Lindencorso sei

von neuteutonischer Natur, die auch dem Führer gefallen hätte.

Das war vielleicht ein bisschen böse, aber nicht ganz falsch. Die Stimmann-Architektur hatte und hat eine gewisse Affinität zum deutschen Faschismus. Schon deshalb, weil man so zwanghaft zur steinernen Fassade zurückkehrte und alles andere verunmöglichte. Hans Stimmann – in den 90ern Staatssekretär für Stadtplanung – ist ein schönes Beispiel für die frühe Liaison von Sozialdemokratie und rechter Ideologie. Neoliberalismus und steinerne Fassaden. Dass die neoliberale Ideologie zeitgleich mit dieser restaurativen Architektur sich ausbreitete, ist kein Zufall.

Die Herrschaft tut heute gerne so, als habe es eine progressive Weiterentwicklung des deutschen Nationalismus gegeben: Wir sind jetzt ganz locker. Nö. Es ist heute noch interessant, sich die Diskussion in den 1990er Jahren zur Architektur in Berlin anzuschauen: Die Progressiven wurden ausgebootet, der Titel eines Arch+-Heftes war:

Von Berlin nach Neuteutonia

Vor dem Krieg stand an der Ecke Friedrichstraße/Unter den Linden übrigens ein Historismus-Gebäude mit dem mondänen Café Bauer im Erdgeschoß:

Das Café rühmte sich damit, täglich 800 Tageszeitungen auszulegen. Kein Scherz. Man kann eine Ahnung davon bekommen, wie international Berlin damals war. In den 1960er Jahren baute die DDR das Lindencorso in zeitgemäßer Architektur wieder auf, es soll ein beliebter Treffpunkt gewesen sein. Da nachder Wende DDR-Architektur nicht nur bei stramm Rechten verhasst war, wurde das Corso 1993 abgerissen. Ein Jahr später begann Mäckler dort zu bauen. Das Gebäude beherbergt heute im Erdgeschoß einen VW-Händler und eine Restaurant-Kette. Darüber gibt es Büros, wo man für ein Acht-Quadratmeterbüro 799 Euro bezahlt. Immerhin warm.

Der Architekt Christoph Mäckler fungierte also an der angeblich wichtigsten Ecke Berlins als Reaktionär und Förderer neoliberaler Politik.

In gewisser Weise kann man an diesem Eckgrundstück Teile der reaktionären deutschen Geschichte ablesen. Immer obrigkeits- und kapitalaffin.

Zurück zur Ideologiefrage. Was für Mäckler Ideologie ist, kann kaum beantwortet werden, da in Mäcklers Kopf diesbezüglich Unklarheit herrscht. Im FR-Interview beklagt er sich über zu teures Wohnen in der Stadt Frankfurt, über zu viel „freien Markt“, über soziale Entmischung in vielen Vierteln, und er lobt indirekt die DDR-Verhältnisse:

Da wohnten der Professor der Charité und der Straßenbahnfahrer noch in einer Nachbarschaft.

So weit, so gut. Fragt man Mäckler aber konkret danach, was sich ändern müsste, kommt ein katastrophale Verwirrung der Begriffe zum Vorschein. Das Problem ist für Mäckler nicht das ausufernde Kapital, sondern:

Fatal ist auch, dass Stadtplanung und Architektur in der Ausbildung getrennt werden.

Und weiter zu den Ursachen der Gentrifizierung:

Weil sie die Mieten nicht mehr zahlen können. Das ist ganz schlecht. Dahinter steht das grundsätzliche Problem, dass dem Städtebau in der Politik zu wenig Beachtung geschenkt wird.

Das mag eine Rolle spielen, aber es ist letztlich egal. Unterm Kapital wird die Stadt verwertungsoptimiert, egal ob von Architekten oder von Stadtplanern. Es geht nicht um das Verhältnis von Städtebau und Architektur. Beide Felder werden vom Kapital totalitär in Beschlag genommen. Mäckler erkennt das Problem nicht einmal im Ansatz.

Wie kann ein prominenter Architekt im Alter von 70 Jahren nur so wenig Wissen mitbringen?

Noch absurder: Mäckler hält die Entwicklung des Westhafens in Frankfurt für vorbildlich – dort wurde ein ehemaliger Binnenhafen in ein Wohnviertel transformiert:

Man kann das Ergebnis in Teilen für gelungen halten, wobei die entmischte Nutzung offensichtlich ist: nur Wohnen, kein Arbeiten, kein Einkaufen, keine Kultur. Also letztlich Langeweile.

Doch davon abgesehen – Wie viel zahlt man im Westhafen fürs Wohnen? Für ein möbliertes Appartment mit 42 Quadratmetern läppische 1.500 Euro, für 22 Quadratmeter sind es nur noch 1.023 Euro. Es werden auffällig viele Wohnungen möbliert angeboten. Das ist für Mäckler also hervorragendes Wohnen.

Christoph Mäckler zeigt in dem FR-Interview unfreiwillig, woran es auch krankt: Wenn Architekten denken, ist das Ergebnis meist enttäuschend. Sie sind in weiten Teilen Büttel des Kapitals, wie wir alle. Frappierend allerdings, wenn das ein exponierter Vertreter der Branche so wenig Ahnung hat. Vielleicht überschätze ich aber generell den Bildungsstand der Menschen. Die Hinwendung zur Partei „Die Grünen“, die derzeit in Umfragen sichtbar wird, kann auch problematisch beurteilt werden. Die Berliner Grünen wollen die Möglichkeit des bundesweiten Mietendeckels. Habeck lehnt das ab. Eine Konkretisierung des grünen Wahlprogramms lehnte die Mehrheit der Delegierten vergangenes Wochenende beim Bundesparteitag ab: Vergesellschaftung hat bei den Grünen keine Chance. Eine zunehmend unangenehme Partei.

Der smarte Neoheld zeigt damit schon vor dem Wahltag sein wahres Gesicht: Plappern, aber bitte keine realen Veränderungen. Er war es auch, der ein Tempolimit auf Autobahnen zur unabdingbaren Voraussetzung für eine grüne Regierungsbeteiligung machte. Symbolpolitik, um die Massen zu beruhigen. Die Grünen werden die Besitzverhältnisse verfestigen, lediglich ihr Management aktualisieren, so scheint es. Die relativ linken Berliner Grünen werden das Feigenblatt sein.

Noch einmal zurück zu Christoph Mäckler: Seine Meinung, dass es nur um Kompetenzgerangel zwischen Architekten und Stadtplanern gehe, hängt damit zusammen: Ablenkung von den echten Problemen.

Vollends ernüchternd wird das Mäcklersche Denken bei der Frage, ob man Gebäude der 1960er und 1970er Jahre abreißen solle. In einer NDR-Reportage über brutalistische Architektur und Denkmalschutz sagt der, ähm, Experte:

Vieles würde man sehr gerne abreißen. In vieles würde man gerne eine Bombe reinwerfen. Weg damit, damit endlich Ruhe ist. Aber das regelt der Markt, ganz klar.

Wenn der Markt also Bomben werfen will, dann geht das in Ordnung. Nach all dem, was wir von Mäckler mittlerweile wissen, wundert es nicht mehr. Es ist reine Regression; als würde man Michael Wendler über Miles Davis befragen. Es ist vielleicht auch typisch deutsch: den gesunden Menschenverstand propagieren und als „normal“ verkaufen, ihn zur Norm erheben und dann munter das zerstören, was sich der Norm nicht fügt.

Was Mäckler nun unter Ideologie versteht, bleibt verschwommen. Vielleicht einfach alles, was ihm nicht passt.

(Fotos: Wikipedia und Wikipedia und Wikipedia )

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o.T. 591

(Foto: genova 2021)

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Von Stuttgartern, die gerne Schokoladeneis essen

Judith Sevinç Basad sagte vor einer Weile in der Phoenix Runde zum Thema Gendersprache:

Wenn Sie in einen Stuttgarter Kindergarten gehen und Sie sagen den Satz „Alle Stuttgarter essen gerne Schokoladeneis“, dann können Sie ein vierjähriges Kind fragen, wer ist damit gemeint? Sind damit nur Männer gemeint oder sind damit auch Frauen gemeint? Und schon kleine Kinder oder auch Menschen, die nach Deutschland gekommen sind und gerade Deutsch lernen, haben ein natürliches Sprachgefühl für das generische Maskulinum … Menschen verstehen intuitiv die Bedeutung des generischen Maskulinums.

Der Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch von der FU Berlin antwortete, dass die Forschung dem widerspreche. Und:

Vierjährige Kinder haben auch schon sehr viel Input bekommen. Das kann durchaus sein, dass Vierjährige gelernt haben, dass wir über Männer reden und andere mitmeinen. Das ändert aber nichts daran, dass wir über Männer reden und die andern nur mitmeinen. Ein natürliches Sprachgefühl ist das mit Sicherheit nicht.

Diese kleine Passage zeigt schön das Problem der Gendersternchenleute.

Das Unwichtige vorweg: Natürlich ist das kein „natürliches Sprachgefühl“, da liegt Basad falsch. Was sollte das sein? Sprache wird erlernt. Es ist ein sozialisiertes Sprachgefühl.

Davon abgesehen erzählt Basad ein selbstverständliches Allerweltsbeispiel, an dem man sieht: Sprache funktioniert. Man redet im generischen Maskulinum und nicht nur über Männer. Das Kind hat Input bekommen, und zwar den selbstverständlichen, dass Stuttgarter alle Menschen sind, die in Stuttgart wohnen. Das Kind hat keine Er-Endung und keine In-Endung im Kopf, sondern es weiß aus Erfahrung, was gemeint ist. So weit, so selbstverständlich und unproblematisch. Mit „Stuttgarter“ redet man über alle, die in Stuttgart wohnen und meint sie selbstverständlich auch.

Stefanowitsch will das nicht begreifen. Er behauptet allen Ernstes, man rede da über Männer – und nicht über Frauen. Man meine sie nur mit.

Für Stefanowitsch und Konsorten nochmal kurz zur Erklärung: Sprachpraxis ist Semantik. „Alle Stuttgarter“ meint zweifelsfrei alle Menschen, die in Stuttgart wohnen. Das weiß das vierjährige Kind, das weiß er und das wissen alle. Wenn etwas von allen gemeint wird, dann ist das exakt das, was gesagt wird. Es gibt hier keinen Unterschied zwischen dem Gemeinten und dem Gesagten. Stefanowitsch und Konsorten versuchen nun das, was prima funktionierte, zu entfunktionialisieren, indem er sich auf reine Grammatik zurückzieht und Semantik ignoriert. Grammatik aber ist nur Mittel zum Zweck. Es ist ein theoretisches Regelsystem, das in der Praxis angewendet wird. Auf dieser grammatikalischen Basis entsteht Semantik, zusammen mit unzähligen anderen Kontexten. Erst das Ergebnis ist Kommunikation, und zwar immer wieder veränderbare. Stefanowitsch und Konsorten wollen offenbar, dass die Semantik von „Stuttgarter“ sich ändert, sich wieder an der rein grammatikalischen Ebene orientiert. Warum? Vermutlich sind sie Wichtigtuer.

Es ist eine Derrida-geprägte Allmachtsphantasie, die da zum Vorschein kommt. Ich fühle mich den neoliberalen Verhältnissen machtlos ausgeliefert und erfinde ein Traumreich, in dem ich noch Macht ausüben kann. Es ist wohl auch, wie hier schon öfter thematisiert, eine typisch deutsche Herangehensweise an ein Phänomen. Es ist deutscher Idealismus in seiner übelsten Form.

Gendersternchenleute verstehen nicht, wie Sprache funktioniert. Sie haben einen fundamentalistischen Zugang zur Sprache und verhalten sich damit kaum anders als Taliban, wenn sie den Koran lesen.

Das reale Problem besteht vielmehr darin, dass Sprache gerade im Politischen permanent missbraucht wird. Man redet von Reform und meint Sozialabbau. Man redet von Altersvorsorge und meint zu schaffende Renditebereiche fürs Kapital. Man redet von Akzeptanz für Homosexuelle und meint damit Duldung fürs Nichtsichtbare. Die Grammatik ist hier einerlei. Solche Beispiele ließen sich viele finden. Es wären hervorragende Forschungsfelder für Stefanowitsch. Soziolinguistik nennt man das und bezeichnenderweise ist dieses Fach mit dem Aufkommen des Neoliberalismus an den Universitäten eingeschlafen. Noch bezeichnender: Mit dem Aufkommen des Neoliberalismus in der Gesellschaft endete nicht nur die Soziolinugistik, sondern die Gendersternchenleute begannen ihren Marsch durch die Institutionen.

Wie kommt ein Stefanowitsch mit solch einem peinlichen Verhältnis zur Sprache zu einem Lehrstuhl für Sprachwissenschaft? Vermutlich so, wie Neoliberale zu VWL-Lehrstühlen kommen.

Oder afghanische Taliban in die Regierung.

(Foto: genova 2011)

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o.T. 590

(Foto: genova 2013)

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Tammam Azzam und die Zerbrechlichkeit

Selten sieht man ein Bild und hat das Gefühl, etwas wirklich Neues zu sehen. Bei den Bildern von Tammam Azzam ist das, zumindest bei mir, der Fall. Azzam malt an der Grenze zwischen figürlich und abstrakt.

Acryl auf Leinwand und Papiercollagen auf Leinwand, das sind die hauptsächlichen Materialien von Azzam. Vielleicht sind diese eher ungewöhnlichen Mischungen der Grund für die Wirkung. Die Motive sind hart und zerbrechlich zugleich dargestellt. Hart in den Schnitten und in den vermuteten Themen: Krieg, Gewalt, Zerstörung, selbst die Kleinteiligkeit, die allen seinen Bildern inhärent ist, wirkt hart, missbräuchlich. Es sind vielleicht nur chaotische Städte dargestellt, doch die Ahnung, dass es um zerstörte Städte, um zerstörte Landschaften geht, schwingt mit.

Zerbrechlich ist der Duktus der Materialien, des Auftrags. Die Papiercollagen sind vermutlich tatsächlich zerbrechlich, zumal Azzam sie manchmal nicht auf Leinwand aufträgt, das Bild also vermutlich zerfällt, wenn man es transportiert. Unzählige und zuvor bemalte kleine Papierschnipsel fügt Azzam zu großformatigen Werken zusammen.

Diese Zerbrechlichkeit des Materials korrespondiert mit den dargestellten Themen. Die Berliner Galerie Kornfeld zeigt eine schöne Übersicht seiner Werke, auch im Netz. Körper, die sich mit dem Papier aufzulösen scheinen, abweisende Dörfer in Kuben, apokalyptische, dunkle Landschaften mit Bombenkratern und ein Vater, der sein Kind durch ein desolates Flüchtlingscamp trägt.

Die Bilder scheinen ebenso leicht zerstörbar wie die Zivilisation.

Der 1980 geborene Azzam wuchs in Syrien auf und emigrierte wegen des Krieges über Umwege nach Berlin.

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o.T. 589

(Foto: genova 2019)

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o.T. 588

(Foto: genova 2019)

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Nachtrag zu Eisenerz

Wo findet man so eine Fassade?

Natürlich in Eisenerz am Eisenerzberg. Ich zähle acht unterschiedliche Fensterformate. Mit den zugemauerten in den Seitenflügeln sind es neun.

Die Längsseite sieht so aus:

Zusätzlich verwirrend ist, dass manche Fenster im Lauf der Zeit ausgetauscht wurden, aber ohne ein erkennbares Konzept der Homogenität. Man kaufte offenbar, was im Baumarkt gerade verfügbar war. Es erinnert ein wenig an die DDR.

(Fotos: genova 2019)

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