Architektur und Dogma 2 – begütigende Tradition

Der Architekturhistoriker Heinrich Klotz über ein Haus in einem in den 1970ern neu errichteten Ferienbergdorf in Spanien/Katalonien (Foto), das vor allem nach guter alter Zeit aussehen soll:

Ein solides, unterbezahltes Handwerk kommt dem Verlangen nach Ungenormtem entgegen und sorgt für jeden erdenklichen individuellen Schnörkel…

Mit Protest im Zweckverstand geht man auf die Dinge zu und fragt sich, warum nun ein solcher Korbbogen frei im rechtwinkligen Türausschnitt des Einganges hängen müsse, warum die Loggienpfeiler zapfenartige Aufleger bilden, die doch nichts zu tragen haben? Und dennoch kann man nicht böse sein und verärgert einen Aufwand kritisieren, der doch kein Aufwand ist. Eine versöhnliche Bescheidenheit liegt in den Dingen. Wie sich herausstellt, war dies alles im Architektenentwurf nicht enthalten. Man hat den Bauhandwerkern freies Spiel gelassen, für die es weder Gropius noch Le Corbusier gab. So mischt sich Tradition begütigend in das pittoreske Kalkül

(H. Klotz: Die röhrenden Hirsche der Architektur, 1977, Foto: ebd., das merkwürdige Schwarz-Weiß-Muster ist scannerbedingt)

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Für diese Perspektive wurde Klotz von Modernisten belächelt: Verständnis aufzubringen für das kleinbürgerliche Bemühen um Behaglichkeit. Natürlich ist das Haus problematisch, genau wegen der Details, die Klotz erwähnt. Und sicher kann man Klotz kritisieren, dass er hier den bösen „Zweckverstand“ gegen das gute „freie Spiel“ positioniert. Aber wozu führt die Verurteilung? Zu Nichtverständnis. Und in den 1970er Jahren hatte moderne Architektur genug Schaden angerichtet, um auf diese kleinbürgerlichen Reaktionen nicht arrogant zu reagieren, sondern eher mit Selbstkritik: Warum kommen Leute auf die Idee, solch einen Blödsinn zu bauen? Warum sehen heute ganze Neubauviertel in Deutschland so unglaublich scheiße aus? Warum wird es immer schlimmer? Woher kommt die Regression? Woher kommt das Bedürfnis, etwas wiederzubeleben, was man als Tradition bezeichnet, aber doch keine ist, weil aus dem funktionalen Zusammenhang gerissen?

Das Haus auf dem Bild ist nur auf den ersten Blick gute alte Zeit. In Wahrheit hat seinerzeit niemand so gebaut. Häuser einfacher Leute waren über Jahrtausende hinweg extrem funktional. Man hatte schlicht nicht die Energie, die man für die Realisierung nutzlosen Zierats braucht. Ein Rundbogen aus abgeschrägten Bausteinen wurde eingesetzt, weil ein Stahlbetonträger oder ein Steinsturz zu teuer oder nicht transportabel oder nicht verfügbar waren. Hätte neben einer mittelalterlichen Baustelle ein Sturz herumgelegen, man hätte ihn garantiert eingebaut und sich gefreut, dass man auf den blöden, komplizierten Rundbogen endlich verzichten kann. Fachwerk ist purer Funktionalismus, der zudem die Konstruktion offenlegt. Moderne pur bei einer Architektur ohne Architekten. Der Unterschied zu heute: Damals war funktionale Architektur ungefähr, die Spaltmaße, die Toleranzen waren erkennbar, nichts war perfekt, vieles war pi mal Daumen. Dieses Bild (das zweite) aus einer polnischen Kleinstadt drückt das ganz gut aus. Dank des technischen Fortschritts ist heute alles perfekt, und so bauen wir seriell zwangsläufig monoton, weil das Zweckrationale das Andere qua perfektonierter Technik zum Absterben bringt. Zweckrationalität war zu der Zeit, auf die das Haus in Katalonien anspielt, architektonisch als reine nicht zu erreichen, weil es kein Computer Aided Design gab. Kein Ziegelstein glich dem nächsten. Der heutige Mensch hat es also konkret baulich viel schwerer, sich einer Zweckrationalität zu entziehen. Sie ist ihm heute ganz selbstverständlich möglich. Tradition war über Jahrhunderte in der Massenarchitektur zwangsläufig implementiert, weil es nichts anderes gab. Tradition konnte gar nicht anders als behutsam weiterentwickelt werden. Alle paar hundert Jahre kam es zu einer neuen technischen Lösung und zu einem neuen Material.

Adorno schreibt dazu in dem Aufsatz Über Tradition (Ges. Schriften., Bd. 10.1, S. 311 ff.):

Real verlorene Tradition ist nicht ästhetisch zu surrogieren. Eben das tut die bürgerliche Gesellschaft. Auch die Gründe dafür sind real. Je weniger ihr Prinzip duldet, was ihm nicht gleicht, desto eifriger beruft es sich auf Tradition und zitiert, was dann, von außen, als „Wert“ erscheint. Dazu ist die bürgerliche Gesellschaft gewzungen. Denn die Vernunft, die in ihrem Produktions- und Reproduktionsprozess waltet und vor deren Gericht sie alles bloß Gewordene und Daseiende ruft, ist nicht die volle.

Eine recht aktuelle Passage. Der Spaziergang durch ein aktuelles Neubauviertel – im Osten naturgemäß noch schlimmer als im Westen – zeigt das Ausmaß des eifrigen Zitierens von Werten, die rein äußerlich sind. Es sind grandiose geistige und ästhetische Katastrophen, die sich vermutlich leicht in Verbindung bringen lassen mit Fremdenfeindlichkeit und Regression. Je massiver der Neoliberalismus zuschlägt, desto verbissener rennt man in den Baumarkt und besorgt sich Sprossenfenster, schmiedeeiserne Lampen, manieristische Geländer, pastellfarbenen Rauputz und so weiter. Ich muss hier leider kulturpessismistisch sein: Seit den 1960er Jahren ist ein massiver Abwärtstrend zu beobachten. Das, was heute im Privaten gebaut wird, war in seiner Scheußlichkeit, in seiner objektiven ästhetischen Regression, vor 50 Jahren nicht einmal denkbar.

Im Osten naturgemäß schlimmer, weil der gebeutelten Bevölkerung erst von den Nazis, dann von der SED so ziemlich alles ausgetrieben wurde, was als Tradition sich behutsam hätte entwickeln können. Dann der Bruch 1989, der die Unsicherheiten und Regressionen offenbar werden ließ, man konnte das nicht mehr zukleistern. Der Wessi prügelte auf den Ossi ein. Seitdem übt sich der Ossi darin, Ausländer zu verprügeln und Gartenzwerge aufzustellen.

Bin ich jetzt vom Thema abgekommen?

Das Haus auf dem Bild oben ist weit entfernt von aktueller Regression. Es lebt dort immerhin Tradition in Form handwerklicher Überlieferungen weiter. Die werden zwar nicht mehr angemessen, also nicht mehr der Tradition gemäß eingesetzt. Sie sind auch nicht angemessen weiterentwickelt, dan nur noch äußerlich. Aber man verfügt immerhin über das Wissen und die Fähigkeiten, das Material adäquat zu bearbeiten. Die aktuellen Katastrophen gehen einen entscheidenden Schritt weiter: Es gibt keine Angemessenheit mehr dem Material gegenüber. Anonym und industriell – an unbekanntem Ort – hergestellte Massenware, die einem Fertighaus angeklatscht werden. Es geht um den reinen Schein, der doch jedem halbwegs Gebildeten zeigt, dass hier schlechter Geschmack zuhause ist.

Eine angemessene Form der Fortführung von Tradition in modernen Zeiten wäre erstens ein bewusstes Besinnen auf den Vorrat, den man zur Verfügung hat, und zweitens eine klare Analyse der herrschenden Zustände. Es wäre, um auf Heinrich Klotz zurückzukommen, der Einsatz von Ungenormtem, aber eben ohne Schnörkel. Das regressive kapitalistische oder meinetwegen bürgerliche System bringt Ungenormtes nur in Verbindung mit Schnörkel hervor, was dafür spricht, dass es keine bewussten Menschen gibt. Kenneth Frampton hat mit dem Begriff des kritischen Regionalismus versucht, dieses Bewusstsein zu entwickeln, was eine Reaktion zu den oberflächlichen Spielereien der Postmoderne in den 1980ern war. (An der Ausbreitung dieser oberflächlichen Spielereien war Heinrich Klotz nicht unschuldig. Dazu demnächst mehr.) Frampton hat sich nicht durchgesetzt, wenn ich das richtig sehe.

Aber noch etwas positives: Wer einen außerordentlich gelungenen architektonischen Umgang mit Geschichte, Tradition und Brüchen besichtigen will: Das Neue Museum in Berlin von Chipperfield. Schräg gegenüber der gerade entstehenden Katastrophe namens Berliner Stadtschloss.

007(Foto: genova 2012)

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