Architektur und Dogma 8 – Glück in Wien

Eigentlich ein Wunder: Eine Großsiedlung mit 3.200 Wohnungen und 10.000 Menschen aus den 1970er Jahren am Rande von Wien ist ein heute überaus begehrter Wohnort mit hoher Wohnzufriedenheit. Wer dort einziehen will, muss zwei Jahre warten. Eigentümer ist eine kommunale Wohnungsbaugesellschaft.

Alt-Erlaa heißt dieser „Wohnpark“: Gemeinschaftsräume, sieben Schwimmbäder mit zum Teil 25-Meter-Bahnen auf den Dächern, sieben Hallenbäder, 21 Saunen, Solarien, 32 „Clubräume“ zur freien Verwendung, Werkbänke und Werkzeug, Tanzkurse, Sportmöglichkeiten, Tennisplätze, sieben Schlechtwetterspielplätze innen, eine Bibliothek, zwei Ärztezentren und ein Hausmeisterservice mit knapp 50 Mitarbeitern; außen eine terrassierte Bauweise mit tiefen, großen, selbstbepflanzten Balkons, viel Grün, keine Autos (die stehen in Tiefgaragen), eine Kirche, Kindergärten, Schulen und günstige Mieten von 300 Euro für ein Zimmer bis 800 Euro für fünf Zimmer, warm. 100 qm bekommt man für 700 Euro. Dazu eine Siedlungsmonatszeitung, ein Wohnpark-Fernsehsender, der das Siedlungsleben abbildet, und ein Mieterbeirat.

(Einen optischen Eindruck von der Gesamtanlage bekommt man hier.)

Sogar zwei Filme wurden über die Siedlung gedreht:

Harry Glück heißt der Architekt lustigerweise und er hat alles falsch gemacht: Drei wuchtige Blöcke, jeweils 400 Meter lang und 80 Meter hoch. Das kann nur schiefgehen. Tut es aber nicht. Direkt zum Problematischen: Die Mittelflurerschließung – ohne natürliches Licht – wirkt nicht einladend und das war wohl früher ein Problembereich inklusive Vandalismus, aber dieses Prinzip lässt mehr Licht für die Wohnungen zu. Die vielen Geschosse sind ebenfalls nicht unproblematisch – ab der 13. Etage verjüngen sie nicht mehr – aber dadurch wohnen so viele Menschen in den Blöcken, dass man die zwangsläufig entstehenden dunklen Kerne mit nötigen Servicebereichen füllen kann.

Es ist ein Funktionalismus mit menschlichem Antlitz. Ein Funktionalismus, der nicht meinte, durch eine oberflächliche Postmoderne überwunden werden zu müssen, sondern weiterzuentwickeln ist. Interessanterweise hatte Glück nichts mit einer Architekten-Avantgarde im Sinn, die die industrialisierte Bauweise teilweise zugunsten postmoderner Spielereien aufgab. Glück bezeichnete das als „pompöse und theatralische Ästhetik“. Er bezeichnete sich als Sozialingenieur und und nutzte die Vorteile des Industriellen, indem er sie in den Dienst des Menschen stellte. Er war kein Künstler, sondern ein rationaler Architekt, der seinen Job ernst nahm. Glück baute Alt-Erlaa mit großflächigem Sichtbeton, mit ausschließlich modernem Design. Er rationalisierte das Bauen via Scheibenbauweise, d.h. heißt, er brauchte keine tragenden Außenwände und keinerlei Fensterunterzüge. Durch die kostengünstige Fertigung konnte er trotz eines schmalen Etats – Alt-Erlaa ist sozialer Wohnungsbau – Schwimmbäder, Saunen und so weiter einbauen, die dem Gemeinschaftssinn dienen. Der wiederum verhindert Vandalismus und generell soziale Folgekosten. Fortschritt at it´s best. Dazu kommt die Terassierung mit der Folge großer Balkone. Und Glück entwickelte dennoch 35 Grundrisstypen. Die Scheibenbauweise leistet auch hier gute Dienste und ist in dem Fließen der Räume beispielsweise dem Barcelona-Pavillion von Mies van der Rohe nicht unähnlich. Begrenzt sind so auch Grundrissänderungen möglich, denn die tragenden Scheiben im Abstand von knapp sechs Metern sind gleichzeitig die Wohnungstrennwände. Der Raum dazwischen ist variabel. Öffentliche Böden sind gummigenoppt, das ist billig und praktisch. Was billig und praktisch ist, ist meist gut. Kann man ihm den populären Vorwurf machen, er kolonialisiere mit seinem Funktionalismus den Alltag, das Leben? Alt-Erlaa als teil der fordistischen oder tayloristischen Maschine? Wohl kaum, auch Wohnen sollte erstmal schlicht funktionieren. Der Architekt schafft möglichst gute Grundlagen, wohnen muss man selber.

Es scheint aus heutiger Sicht sowieso Heuchelei, wenn man den Funktionialisten Vorhaltungen macht. Der Bauwirtschaftsfunktionialismus ist natürlich abzulehnen, aber der reale Gang der Geschichte sah ja so aus, dass auf die funktionialistischen 60er und 70er die Postmoderne in neoliberalem Gewand folgte. Stadt wurde wieder vermehrt ein Teil der Spekulation und wenn Stararchitekten wie Zaha Hadid sich im sozialen Wohnbau versuchen, gucken zwar alle hin, aber es zieht niemand ein – zu teuer und disfunktional.

Funktionalismus kann ein Gestaltungsproblem haben, gerade im sozialen Wohnungsbau. Serielle Fertigung begünstigt Monotonie. Auch Glück hat sich wohl um Gestaltung nicht besonders gekümmert. Allerdings kümmerte er sich um Begrünung, und die großen Pflanzenkübel an den Balkonen wirken gestalterisch Wunder – die Bewohner sorgen mit ihrer individuellen, unterschiedlichen Bepflanzung quasi selbst für Gestaltung. Allerdings will man die Welt auch nicht mit Alt-Erlaas vollgestellt wissen. Form und Funktion: ein Dauerthema ohne eindeutige Antwort. Gut möglich, dass der praktische Wohnungsbau zwingend schön ist. Oder umgekehrt: ist er nicht schön, ist er auch nicht praktisch.

Wie Architektur funktionalistisch und jenseits des Oberflächlichen gestalerisch weiterentwickelt wurde, könnte man sich am Beispiel Jean Renaudies anschauen, hier, in Givors:

und hier, in Ivry sur Seine (ab 2.12):

Beide Projekte sind zur ungefähr gleichen Zeit wie Alt-Erlaa entstanden. Allen drei Siedlungen ist die Betonung der Terrassierung und der Begrünung als gestalterisches Element gemein, wenngleich in Frankreich weitaus intensiver, geradezu expressionistisch. Renaudie hatte es mehr mit dem Drei- denn dem Viereck. Aber das ist eine andere Geschichte.

Architektur ist nicht neutral, sie wirkt immer, im Guten wie im Schlechten. Grüne Räume für die nahe Verbindung mit der Natur, soziale Räume für Kleingruppen. Es ist in Alt-Erlaa eine gute Mischung zwischen privatem Freiraum und gemeinschaftlicher Gebundenheit, das „mit funktionierenden Dörfern locker mithalten kann“, wie der österreichische Stadtplaner Reinhard Seiß meint, der sich mit der Siedlung ausgiebig beschäftigt hat. Vielleicht ist dieser moderne Dorfbezug der qualitative Kern von Alt-Erlaa. Der Mensch als Maß in der Großsiedlung. Die pädagogisch-fürsorgliche Didaktik bis hin zur vorgeschriebenen Wohnzimmerwandfarbe, die vielfach die 1920er Jahr auszeichnete, ist passé. Es braucht nicht den Neuen Menschen, um hier zu wohnen. Dennoch strahlt die Siedlung gestalterische Einheitlichkeit aus. Es wäre reizvoll, die Anwendung der Bauentwurfslehre von Neufert in Alt-Erlaa zu untersuchen.

Alt-Erlaa erinnert ein wenig an Corbusiers Wohnmaschinen, die aber mit weitreichenden Abstrichen realisiert wurden (was man heute gerne aber ungerechterweise Corbusier selbst anlastet). Die Wohnmaschinen haben, im Gegensatz zu Alt-Erlaa, von einer Seite zur anderen durchgehende Wohnungen, dafür sind die dann recht schmal. Auch Alt-Erlaa ist eine Maschine, eine Maschine die funktioniert und den Bewohnern dient. Es erinnert auch an Herman Herzberger, den Struktualismus-Architekten, der Strukturen aus humaner Perspektive entwickelte. Die Architektur Glücks ist ohne Mätzchen, aber dennoch nicht monoton, alles hat seinen Sinn, überdies aktuell in einem  Zustand frei von erkennbarem Verfall. Und ökologisch relativ vorbildlich. Die Bauvolumina haben eine wohnungsübertragen geringe Außenfläche. Und wer alles um die Ecke hat, fährt weniger umher. Die U-Bahn in die Stadt ist vor der Tür. Es ist eine Art gesellschaftliche Verantwortung, die Glück übernommen hat. Human friendly enviroments heißt das heute. Glück orientierte sich auch an den utopischen Sozialisten wie Charles Fourier und an Vorläufern des sozialen Wohnungsbaus wie die Familistere von Godin im nordfranzösischen Guise. Wobei im Unterschied zum roten Wien in Guise noch der Unternehmenschef das Sagen über die Architektur für seine Schäflein hatte. Von Mitbestimmung der künftigen Bewohner war bei Glück allerdings keine Rede. Er kümmerte sich vielmehr um die Evaluierung der Erfahrungen der Bewohner nach der Fertigstellung. Angeblich kennt er alle Hausmeister persönlich. Glück ist ein politischer Architekt, aber ein pragmatischer. Und dann kann zur Architektur auch ein funktionierender Hausmeisterservice gehören.

In den Dachschwimmbädern – bis 22 Uhr geöffnet und kostenlos – treffen sich die Bewohner in Badehosen, sagt eine Frau in dem zweiten oben verlinkten Film, da sehe niemand, ob man einen Generaldirektor oder eine Putzfrau vor sich habe.

Was Glück wohltuend von Le Corbusier unterscheidet, ist seine fehlende tabula rasa. Er phantasierte nicht davon, ganze Städte zugunsten des Neuen plattzumachen. Er baute einfach auf die grüne Wiese und musste sich deshalb nicht für Bauen im Kontext interessieren.

Alt-Erlaa entstand in einer Zeit, in der der Funktionalismus auf seinem tiefsten Ansehen angelangt war. Die Architekturkritik reagierte seinerzeit entsprechend negativ. Ein großer Kritiker, Friedrich Achleitner, hat sein damalig vernichtendes Urteil mittlerweile revidiert.

Das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl ist einer von Glücks Leitsätzen. Luxus für alle ein anderer.

Harry Glück meinte kürzlich:

„Das konservative Lager machte uns den Vorwurf, dass wir mit öffentlichen Geldern Luxus für Proleten bauen.“

Hier noch ein Interiew mit dem mittlerweile 91-Jährigen:

(Ein sehr lesenswertes und großformatiges Buch zu Alt-Erlaa und anderen Bauten Glücks mit wunderbaren Fotos hat Reinhard Seiß herausgegeben: Harry Glück. Wohnbauten. 2014, 240 Seiten, 48 Euro)

Architektur und Dogma 7

Architektur und Dogma 6

Architektur und Dogma 5

Architektur und Dogma 4

Architektur und Dogma 3

Architektur und Dogma 2

Architektur und Dogma 1

(Fotos: genova 2015)

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2 Antworten zu Architektur und Dogma 8 – Glück in Wien

  1. dame.von.welt schreibt:

    Ich fand die Glücksbauten von außen zwar häßlich wie die Nacht, aber von innen und als Konzept sind sie mehr als überzeugend. Danke für den interessanten Blog, gern gelesen!

    Paßt vielleicht zum Thema hier: Nils Boeing beim Freitag: Kritische Zone, über Henri Lefebvre, das Recht auf Stadt und 5 daraus abgeleitete Thesen.

    Wie Architektur funktionalistisch und jenseits des Oberflächlichen gestalterisch weiterentwickelt wurde, könnte man sich am Beispiel Jean Renaudies anschauen, hier, in Givors

    Spitze Dreiecke finde ich ehrlich gesagt sogar extrem oberflächlich, die sind mir gestalterisch verdächtig. Dreiecke gliedern zwar Fassaden, sind aber als Wohnraum kaum nutzbar und mir kam auch noch keine Raum- oder Wohnphilosophie unter, die mich vom Gegenteil hätte überzeugen können.

    Die weltschlechtesten, mehrfach preisgekrönten Berliner Architekten, das Ehepaar Hinrich und Inken Baller, setzen auch sehr gern spitze Dreiecke in Form von Balkonen, Loggias oder sonstiger Fassadengestaltung ein, ich hatte vor vielen Jahren mal das zweifelhafte Vergnügen, zwei ihrer Architekturen zu beleuchten (eine Vollgastro und ein Kaufgeschäft für Design): in beiden hatten sie in der ganzen Sichtbetonpracht Steckdosen, Wand- und Deckenauslässe für weitgehend verzichtbar gehalten, in der Vollgastro gab es auf knapp 200qm ganze 2 Steckdosen und aber 7 Deckenauslässe, letztere im Kreis um eine Säule in einer spitzigen Ecke in der Peripherie des sonst eigentlich ganz schönen Raumes angeordnet °_O

    Sowas würde Funktionalisten niemalsnienicht passieren! Die denken und gestalten von innen nach außen und von da wieder nach innen.

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  2. genova68 schreibt:

    Danke für den Kommentar. Hässlich oder nicht, vielleicht auch eine Frage der Gewöhnung, der Sozialisation, und vor allem eine Zeitfrage.

    Sie haben ja eine pointierte Sicht auf die Ballers. Die Geschichte mit den Steckdosen lässt vermuten, dass sie die Fassade für wichtiger hielten als das Innenleben. Ich habe einen Bau von denen leider noch nie betreten. Optisch sind die halt schnell wiedererkennbar, das steigert die Popularität.

    Das Dreieck scheint bei Renaudie vor allem bei den Balkonen und den Freiflächen eingesetzt worden zu sein. Man sieht momentan ja öfter dreieckige Balkone bei trendigen Neubauten in Berlin, da ist der Winkel aber extrem spitz und die verfügbare Fläche lässt jeden Nachkriegswohnungsbaubalkon der 50er luxuriös erscheinen.

    Danke für den Hinweis auf den Beitrag im Freitag, lese ich demnächst mal. Lefebvre ist wieder im Kommen, ja. Das Problem scheint mir darin zu liegen, dass theoretisch alles schon mal da war, es fehlt die Umsetzung in die Praxis. In London wollen aktuell über tausend Studenten die Mieten nicht mehr zahlen, zu hoch. Das ist mal ein praktischer Ansatz.

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