Balkonien in Montpellier

„Jede Wohnung braucht dringend einen Balkon“

schreibt Peter Richter in der Süddeutschen Zeitung (31.8., S. 17) in der Besprechung eines Wohnneubaus in Montpellier (Architekt: Sou Fujimoto), dessen Fassade auffällig und massiv von weit auskragenden Balkons geschmückt ist. Balkone sind hier auch zentrales Gestaltungselement.

Ja, Wohnungen brauchen breite und tiefe Balkone, vor allem in der Stadt, meine Rede seit Dekaden. Der Bau in Montpellier ist diesbezüglich interessant. Einige Wohnungen verlaufen über zwei Stockwerke, LeCorbusier lässt grüßen, und so gibt es auch Balkone auf zwei Ebenen, die über aushäusige Treppen verbunden sind.

Wie sieht es in Deutschland aus? Altbaubalkone sind generell ungenügend und kaum nutzbar und nur im Vorderhaus für ein paar privilegierte Mieter vorhanden. Bei Neubauten ist Architekten die formale Gestaltung der Fassade wichtiger als der Freiraum der künftigen Bewohner. Das bedeutet, dass die Nutzbarkeit der Balkone hinter einer zuvor festgelegten Fassadenästhetik zurücktritt. Die meisten Fassaden deutscher Wohnhäuser neuerer Bauart, so meine These, funktionieren deshalb antifunktionalistisch, rein visuell. Derzeit im Trend liegen schmale, dreieckige Balkone, die der Fassade Dynamik und Spontaneität verleihen, die aber real nur als Abstellfläche für eingeklappte Klappstühle dienen.

Sou Fujimoto hat eine Menge interessanter Sachen gebaut, wie überhaupt viele zeitgenössische Japaner sich gute Gedanken machen. Es macht Sinn, sich mit ihm und seinen Gedanken zu beschäftigen. In Deutschland baut er nichts.

Was macht eigentlich das Domino-System („Maison Dom-Ino“), von LeCorbusier schon 1915 entwickelt?


In seiner Einfachheit und damit Genialität unerreicht: Es besteht nur aus Stahlbetondecken, und die tragenden  Pfeiler sind ein paar Meter hinter die Fassade zurückgesetzt, sodass automatisch rundumlaufende Balkone entstehen, wenn man die nichttragende Fassade ebenfalls ein paar Meter zurücksetzt, am besten auf die Höhe der Stützen. In Athen ist das tausendfach realisiert worden, in den 1950ern und 1960ern, nach dem Krieg. Athener wohnen zu schätzungsweise hunderttausenden komfortabel und fast paradiesisch und kommunikativ in hellen Wohnungen mit rundumlaufenden Balkonen und Fensterbändern.

In Deutschland naturgemäß undenkbar. Es ist dem gemeinen Deutschen nicht bodenständig genug, vermute ich, und das Blut fehlt auch. In Süditalien und auf Sizilien findet man diese Bauweise häufig, gut sichtbar auch in Form der vielen Rohbauten, die so in der Landschaft herumstehen, wie das Bild hier oben das zeigt. Man baute günstig die Struktur, hatte dann aber offenbar kein Geld mehr.

Das neueste Stadtviertel in Berlin, die Europacity, zeigt, wohin die Reise geht: Teuer und banal. (Dazu demnächst mehr.) Kein Fujimoto, kein Corbusier, keine Innovation, fast keine gute Idee. Nur protzen und schnelles Geld verdienen. Berliner Architektur heute ist eine Mischung aus Angela Merkel und Alice Weidel: Banal, aggressiv und ausschließend. So wie auch im richtigen Leben Merkel und Weidel viel mehr gemein haben, als man das gemeinhin vermutet: neoliberal sind beide.

Umso wichtiger, auf Entwicklungen aufmerksam zu machen, die zeigen, dass es noch anderes gibt. Weder Merkel/Weidel, noch Europacity.

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2 Antworten zu Balkonien in Montpellier

  1. neumondschein schreibt:

    * Balkone machen Wohnungen dunkler. Besonders tiefe Balkone.
    * Für Balkone muß man Miete zahlen, deren Fläche aber höchstens zum Wäscheaufhängen oder Blumentöpfeabstellen taugt.

    Erker hält genova wahrscheinlich für regressiv.

    Übrigens: Die Balkone auf dem Bild brauchen Geländer. Sonst fällt man runter. Bestimmt gibt es irgendeine Bauvorschrift in Deutschland, die es Fujimoto untersagen, so gefährliche Dinge zu bauen.

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  2. genova68 schreibt:

    Für Balkone zahlt man die halbe Miete, was aber kein Problem darstellt, wenn ein radikaler Mietendeckel kommt, der die Investoren aus der Stadt vertreibt.

    Das Problem heißt Kapitalismus, nicht Balkon.

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