Verfassungsrichter: Kapitalismus ist verfassungsfeindlich

692434In der Krise reden manche Leute Klartext, von denen ich es nicht erwartete. Zum Beispiel der ehemalige Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde. Auf jetzt.de von der Süddeutschen Zeitung analysiert er den Kapitalismus und kommt zu Schlüssen, die noch vor zwei Jahren den Verfassungsschutz auf den Plan gerufen hätten:

„Woran krankt also der Kapitalismus? Er krankt nicht allein an seinen Auswüchsen, nicht an der Gier und dem Egoismus von Menschen, die in ihm agieren. Er krankt an seinem Ausgangspunkt, seiner zweckrationalen Leitidee und deren systembildender Kraft. Deshalb kann die Krankheit auch nicht durch Heilmittel am Rand beseitigt werden, sondern nur durch die Umkehrung des Ausgangspunktes.

Bemerkenswert. Böckenförde, immerhin ein herausragender Repräsentant des Staates, beschreibt den Kapitalismus nicht als ein an sich nettes System, das jetzt halt ein bisschen korrigiert werden muss, sondern als eines, das nicht heilbar ist. Böckenförde sagt es deutlich:

„Gewiss können dem System des Kapitalismus durch Staat und Recht von außen Grenzen gezogen und Regulierungen auferlegt werden, die Auswüchse und nicht hinnehmbare Folgen eindämmen, soweit die staatliche Ordnung dazu die Kraft hat, die ja ihrerseits auf eine Wachstum hervorbringende Wirtschaft angewiesen ist. Das geschieht auch in gewissem Umfang. Aber es bleibt, so weit es gelingt, eine Korrektur am Rande, die der Funktionslogik des Systems abgerungen werden muss. Diese zielt stets auf möglichste Deregulierung.“

Schön, dass ein Ex-Verfassungsrichter klar formuliert, dass ein kapitalistisches System verfassungsfeindlich ist. Der Kapitalismus ist einerseits zwar flexibel und lässt sich in Demokratien einbauen wie auch in Diktaturen. Aber eben nicht langfristig, weil seine „Funktionslogik“ alle nicht-kapitalistischen Strukturen zerstört. Kapitalismus ist auf Dauer nie nur ein Wirtschafts-, sondern immer auch Gesellschaftssystem.

Ein Bundesverfassungsrichter als Teilzeit-Marxist. Was seine Kollegen wohl dazu sagen?

Im Weiteren spricht er noch von dem nun entlarvten „inhumanen Charakter“ des Kapitalismus, bezieht sich mehrfach positiv auf Marx, beklagt die völlige Ökonomisierung der Gesellschaft und spricht von einem notwendigen „Gegenmodell“.

Wie sieht das aus? Böckenförder will das an dieser Stelle nicht entwerfen und ist in dem, was er dazu anmerkt, nicht sehr politisch: Solidarität soll kein notwendiges Abfallprodukt eines unsozialen Sytems sein, kein „Reparaturbegriff“, sondern eine Handlungsmaxime, „ein strukturierendes Prinzip im menschlichen Miteinander auch im ökonomischen Bereich“. Er verweist auf die christliche Soziallehre.

Dass Böckenförder auch an anderen Stellen katholisch argumentiert und Papst Johannes Paul II. als „den schärfsten Kritiker des Kapitalismus nach Karl Marx“ bezeichnet, muss man nicht weiter beachten (theoretisch ist es vielleicht sogar wahr), es tut seiner Analyse keinen Abbruch.

Ein wenig versteckt im Text bezieht er sich auf Thomas von Aquin und sagt, dass Diebstahl in „existenzieller Not keine Sünde“ sei.

Ob demnächst unauffällige Opel vor seiner Tür stehen?


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4 Antworten zu Verfassungsrichter: Kapitalismus ist verfassungsfeindlich

  1. hanneswurst schreibt:

    Ich habe den Artikel nicht gelesen, deswegen die Frage: ist Böckenförde denn der Meinung, dass Deutschland kapitalistisch ausgerichtet ist (und in welchem Maße)?

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  2. genova68 schreibt:

    Huch, der Artikel ist nicht mehr abrufbar. Schade.

    Böckenförde ging vor allem auf das Prinzip des Kapitalismus ein. Auf deine Frage hat er nicht direkt geantwortet, aber das setzt er wohl als gegeben voraus.

    Den Artikel findet man in Auszügen noch hier:
    http://www.brandenblog.com/2009/04/26/weisheiten-nr-12-woran-der-kapitalismus-krankt/

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  3. hanneswurst schreibt:

    In Deutschland herrscht das „Prinzip Kapitalismus“? Worauf beziehst Du das? Auf das Recht auf Privatbesitz? Sind alle europäischen Staaten kapitalistisch? Welcher nicht-kapitalistische Staat ist zur Nachahmung empfohlen?

    Ich habe wie gesagt den Artikel nicht gelesen, aber eine solche Brandrede gegen den Kapitalismus kommt mir wie das Klagen des staubwischenden Junggesellen gegen den Feminismus vor.

    Anders sieht es mit der konkreten Forderung nach mehr Regulation, Besteuerung von Finanztransaktionen usw. aus. Alles Maßnahmen, die je nach Umstand richtig sein können. Hierzu muss der Staat opportunistisch zwischen Einzel- und Gemeininteressen makeln. Das bedarf keiner Umwälzung eines ominösen Systems und auch keiner neuen Ethik.

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  4. genova68 schreibt:

    Ich habe Böckenförder ja ausführlich zitiert, daraus wird doch deutlich, was er meint. Es geht um die Logik des Kapitalismus, um das Prinzip. Und das findet er grundlegend falsch. Ich interpretiere das so: Kapitalismus zerstört auf Dauer jede Demokratie und jede gesellschaftliche Bindung, außer die profitorientierte.
    Wenn Böckenförde das Prinzip richtig beschreibt, dann lässt sich der Kapitalismus mit „Regulation“ nur vorübergehend bändigen. Und im Moment sieht es aus, als ob er Recht hätte.

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