Vom Nichtstun unter Druck und den besseren Nazis

Die völlige und ganz und gar umfängliche Perversion der westlichen sogenannten Leistungsgesellschaften zeigt sich bekanntlich und wie jedes Phänomen beim Beobachten von Details. Eine Annäherung in drei Kapiteln.

I.

Die Süddeutsche Zeitung berichtete kürzlich in ihrer Wochenendausgabe (15.11., S. 59) über den Trend zum Sabbatical, also einer halbjährigen Auszeit vom Job. Es wäre aber kein Sabbatical im Kapitalismus, würde man dann einfach nichts tun. Das Sabbatical, so die SZ,

„ist zum neuen Statussymbol geworden. Das setzt die Kurzzeit-Aussteiger mächtig unter Druck“.

Das, was man mit der Sechsmonatsauszeit eigentlich vermeiden wollte, nämlich Druck, steigert sich sogar. Laut Süddeutscher, weil in der Auszeit viel Aktivität erwartet wird. Weltreise, Yoga in Indien, Extremklettern, bei Non-Profit-Organisationen mitarbeiten und vor allem: Man muss sich selbst finden. Entsprechende Geschichten nach dem Sabbaticalende werden erwartet. Entspannend wäre es beispielsweise, die sechs Monate kiffend auf dem Sofa zu verbringen, Jazz zu hören und ab und an einen Porno zu gucken. Das aber ist nicht angesagt.

Die totale Marktförmigkeit ist nicht nur im Menschen angelangt, sondern sie ist dort 24/7, wie man sagt, existent. Das haben nicht einmal die Nazis hinbekommen. Man muss, was den Erfolg der Strategie angeht, vor Neoliberalen mehr Respekt haben als vor den Nazis. In Sachen Totalität sind die Neoliberalen einfach die besseren Nazis.

Wir haben die völlige Affirmation, die unbegrenzte Verfügbarkeit über uns akzeptiert. Wir präparieren uns 24/7, auf dass die Verfügbarkeit noch effizienter werde. Deshalb nehmen wir auch hin, dass Konzerne wie Google oder Facebook sich so benehmen, wie sie sich benehmen. Eigentlich ist alles menschlich.

Zwei Wochen zuvor porträtierte die Süddeutsche übrigens eine gut aussehende und schlanke 52-jährige neunfache Mutter, die schon mit 35 Jahren erfolgreiche Fondsmanagerin wurde.

„Bis zum vierten Kind haben wir beide Vollzeit gearbeitet. Das war stressig.“

sagt sie (2.11., S. 19). Sie soll wohl ein Vorbild sein. Toll, was die Frau leistet! Sie hatte tatsächlich 2017 eine viermonatige Auszeit, ein Sabbatical. Was machte sie da?

„Ich habe mein Buch geschrieben“.

Man glaubt es kaum.

Nett, um das mal vorsichtig zu sagen, auch dieser Satz:

„Kinder brauchen Zeit und Aufmerksamkeit.“

Es ist alles eine einzige Perversion.

Ich empfehle als Alternativaktivitäten fürs Sabbatical:

– Schlammcatchen in Marzahn

– Sangriaeimertrinken am Ballermann.

– Investorenbüros anzünden auf dem Kudamm

Aber nur, wenn man dazu gerade Lust hat.

II.

Diese Biopolitik, von Foucault schon früh gut beschrieben, die totale Besetzung der Körper und der Seelen durch die Kapitallogik, ist umso präsenter,  je weniger uns das auffällt. Die totale Verfügbarkeit ist möglich durch die Unauffälligkeit des Vorhabens.

Foucault berichtete in Die Geburt der Biopolitik auch über die Geschichte des Marktbegriffs und sieht ihn „im Mittelalter, im 16. und 17. Jahrhundert“ als einen „Ort der Gerechtigkeit“. Es sei damals nicht um Preisfindung gegangen, sondern nur um die „Abwesenheit von Betrug“, was dem „Schutz des Käufers“ gedient habe. Es sei ein „privilegierter Ort der Verteilungsgerechtigkeit“ gewesen. Später erst sei der Markt zum Ort der Wahrheitsfindung, nämlich eines sogenannten normalen Preises geworden. Dieser Normalpreis ist der objektiv wahre, denn er wird von jemandem bezahlt. Der Markt als Ort der Veridiktion, so nennt Foucault das:

„Der Markt soll die Wahrheit sagen.“

Die Deutsche Bahn – ein hundertprozentiges Staatsunternehmen – hat auch einen Normalpreis, der so absurd hoch liegt, dass ihn kaum jemand bezahlen kann. Er liegt für die Strecke Berlin-München bei 321 Euro hin und zurück. Fährt man zu zweit für ein paar Tage ins Bayrische, ist man nur für die Fahrt 642 Euro los. Das ist normal, sagt die Bahn. Das ist normal, sagt dieser Staat. Es ist eine Art künstliche Wahrheitsfindung.

Vielleicht ist es dieser Normalitätsbegriff, der uns alles mitmachen und erleiden lässt. Es ist halt so, sagt der Deutsche gern. Im Sabbatical sich unter Druck setzen und für 1.000 Euro einen ganzen Monat schuften. Es ist normal, weil wir es tun. Indem wir es tun, realisieren wir die asozialsten Forderungen des Kapitals. Und da das Kapital schon in unseren Gedärmen angekommen ist, ist der Ausweg kaum zu finden.

Der Markt war Ort der Gerechtigkeit und ist nun Ort der Wahrheit. Das nährt die in hier kürzlich geäußerte These von der strukturellen Ähnlichkeit von Neoliberalen, Nazis und religiösen Fanatikern. Alle drei argumentieren mit einem unfehlbaren Gott im Hintergrund: Mit Markt, miit Blut und mit dem absoluten Heiligen. Alle drei komponenten haben immer Recht. Es ist die Norm, bei der Abweichung geahndet werden muss.

III.

„Wie verändert der Neoliberalismus die Art der Menschen, zu denken und zu fühlen, aber auch ihre Körper?“

fragte der Theaterregisseur Falk Richter kürzlich ganz richtig bei einer Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung („Kultur gegen rechten Kulturkampf“) und konstatierte, dass die neoliberalisierten Menschen „eine Körperlichkeit des erschöpften und überanstrengten Körpers“ aufweisen und in einer Angst abzusteigen leben. Es gebe keine sozialen Netze mehr – und auch keinen Gott, möchte ich hinzufügen.

Richter weiter:

„Es war natürlich irgendwann absehbar, dass der Neoliberalismus eine ganze große Gruppe von Menschen produziert, die eine große Unzufriedenheit haben und die nicht mehr fest in ihrem Leben verankert sind“

und denen

„werden jetzt Angebote gemacht, wohin sie ihren Hass richten können.“

Die Wut dieser Leute richtet aber nicht gegen das Kapital als realen Grund für die Missstände, sondern gegen die weiter unten. Es sind Fiktionen, sagt Richter, und das ist vielleicht gar nicht uninteressant. Man könnte ja sagen, dass die realen Ungerechtigkeiten ein einfacheres Ziel wären als von Umvolkung und Volkstod zu reden. Ist es aber nicht.

Der linke Theoretiker Georg Füllberth sagte dazu vor ein paar Jahren, dass das Kapital

„die Gesellschaft ständig umwälzt: durch technologische Innovationen und die Mobilisierung von Konsens, in dem die Volksmassen selbst als Subjekt ihres Begehrens zur Weiterentwicklung des Kapitalismus beitragen… Die Unterklassen akzeptieren die Hegemonie des Kapitals und befestigen diese durch ihre eigene Mobilisierung selbst.“

Die vom Neoliberalismus produzierte Gruppe von Unzufriedenen liegt meines Erachtens bei knapp 100 Prozent. Bis auf ein paar durchgeknallte Neolibertäre, Hayek- und Rand-Fans goutiert niemand die Auswirkungen realkapitalistischer Politik. Selbst hier, wo wir global betrachtet zu den Gewinnern gehören. Aber wir ahnen alle, dass wir Gefangene sind. Die große Leistung dieses Systems ist es, den meisten glauben zu machen, es gehe ihnen gut. Bewundernswert in dieser Hinsicht ist die Leistung von Unternehmen wie Nike oder Adidas: Sie beziehen die fertigen Schuhe aus asiatischen Sweatshops für ein paar Euro und verkaufen sie für 100 Euro weiter. Gigantische Summen des erzielten Gewinns gehen ins Marketing, das den Leuten einredet, einen Vorteil davon zu haben, für einen Kleidungsartikel mit gut sichtbarem Labelaufdruck viel Geld zu zahlen.

Die Menschen mit diesen Labels auf dem Körper sind zufrieden. Andere sind es, weil sie im Sabbatical aktiv sind.

Die Deutsche Bahn hat den Normalpreis kürzlich umbenannt. Er heißt jetzt Flexpreis.

Vermutlich hilft wirklich nur noch Schlammcatchen.

(Fotos: genova 2018)

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6 Antworten zu Vom Nichtstun unter Druck und den besseren Nazis

  1. hANNES wURST schreibt:

    Ob jemand seine Freizeit mit Kiffen, Saufen, Feiern oder mit Erbsenzählen, Bücherschreiben, Weltreisen verbringt ist persönliche Präferenz nicht Produkt der Plutokratie.

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  2. genova68 schreibt:

    Kiffen, Saufen, Feiern, Erbsenzählen, Bücherschreiben und Weltreisen sind politische Aktionen, so wie alles in dieser Welt.

    Der eigentliche Skandal ist aber der, dass auch 24 Stunden nach Veröffentlichung dieses Artikels noch niemand den Like-Button gedrückt hat. Ich vemute naturgemäß eine Verschwörung dahinter. Wahrscheinlich ist´s der Jude.

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  3. hANNES wURST schreibt:

    Like Button? Ich dachte, das heißt „am Arsch lecken“ auf Englisch.

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  4. genova68 schreibt:

    Nein, das musst du anklicken, wenn dir mein Arsch gefällt. Du kennst ihn ja.

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  5. altautonomer schreibt:

    Die SPD nennt das Prinzip „Grundeinkommensjahr“. Ein Bürger, auf der Strasse von einem Fernsehteam befragt, was er davon hält, 12 Jahre zu arbeiten und dann 1 Jahr frei zu haben, antwortete: „Umgekehrt wäre mir lieber“!

    Kluger Mann.

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  6. genova68 schreibt:

    SPD? Was ist das?

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