Rekonstruktion und Geschichte (1): Warschau

Bis heute läuft ja in München noch eine große Ausstellung über Nutzen und Nachteil von Rekonstruktionen („Geschichte der Rekonstruktion – Konstruktion der Geschichte“). Das passt insofern, als ich seit Monaten inhaltsreiche und mitteilungswerte Gedanken zu Warschau und seiner städtebaulichen Geschichte im Kopf habe, die sortiert werden wollen.

Warschau war die meist zerstörte Stadt nach dem Krieg. Die Deutschen versuchten, wirklich jedes Haus zu zerstören, was ihnen auch fast gelang. Das wird gerne vergessen, zumal es bei uns nur noch um Dresden und die armen deutschen Opfer geht. Das jüdische Ghetto war mit deutscher Gründlichkeit entsorgt worden, es war buchstäblich kein Stein mehr vorhanden. Der Turm blieb nur deshalb stehen, weil die SS von dort oben einen guten Blick hatte:

Die anderen Teile der Stadt sahen kaum besser aus.

Die Polen haben die Altstadt und den sich südlich daran anschließenden Königsweg kurz danach wieder aufgebaut. Und wie isses da jetzt so?

Um das Fazit vorwegzunehmen: scheiße. Viele Warschauer sind wohl recht stolz drauf, aber es ist mittlerweile Walt Disney. Zum einen wurde schon beim Aufbau Geschichtsklitterung betrieben, denn die in der Gründerzeit zerstörten Altstadthäuser wurden nicht wieder aufgebaut, weil man um 1950 herum die Gründerzeitarchitektur blöd fand, sondern stattdessen das, was vorher da stand. Es wurde also nur das rekonstruiert, was einem erinnerungstechnisch in den Kram passte. Das ist handwerklich sehr ordentlich gemacht, keine Frage. Und es hat vielleicht bis 1989 ganz gut funktioniert.

Doch mit der Einführung des Kapitalismus ging es bergab. Die Altstadt ist heute eine einzige Zone für schlechtangezogene Familien, die Eis essen und ansonsten nichts machen außer langsam hin und her zu gehen. Man kann dort sonst auch nichts machen außer sich im Schnellverfahren portraitieren lassen, Kunsthandwerk kaufen und dann noch ein Eis essen. Die Preise für die wenigen Mietwohnungen liegen mittlerweile auf westdeutschem Niveau, die Restaurants sehen alle gleich aus, weil sie sich von den wenigen Brauereien die Ausstattung spendieren ließen, es ist die gleiche unangenehme touristische Infrastruktur wie in den einschlägigen Vierteln Dresdens, Rothenburgs, Krakaus, Dinkelsbühls.

Selbst die Universität hat ihren Hauptsitz dort am Königsweg, unmittelbar neben dem Sitz des Staatschefs, und ist somit schon räumlich in einer Kultivierungszone gelegen, die sie streberhaft erscheinen lässt.

Außerhalb der Altstadt – also auf rund 95 Prozent der Stadtfläche – ist Warschau radikal anders. Dort baute bis 1989 der Staat zuerst ein bisschen sowjetischen Zuckerbäckerstil, danach die unvermeidlichen Wohnzeilen und seitdem Investoren, was sie wollen.

Die wenigen Vorkriegshäuser, die dort stehenblieben, interessieren nicht, wie man sieht oder auch nicht:

Architekturhistorisch bedeutsame Fassaden werden mit großen Werbebannern abgedeckt, weil die Fassaden ja nur aus dem Realsozialismus stammen:

95 Prozent Warschaus sind den Warschauern wurst. Die kleine Altstadt wird gehätschelt und verwöhnt, wie die einzige Enkelin, die von den Großeltern jeden Tag fein rausgeputzt wird als wäre es Sonntag. Es ist eine Du-musst-dich-wohlfühlen-Kulisse ohne jeden Anspruch. Den Warschauern ist offenbar genau der Teil ihrer Stadt am wichtigsten, der garantiert keine Zukunft bereithält, sondern nur einen getrübten Blick, einen schalen Geschmack bietet auf das vermeintliche Leben.

Und dieses Phänomen eines verhängnisvollen Bezuges zur eigenen gebauten Umwelt ist ohne das deutsche Barbarentum nicht denkbar. Ich habe noch nie eine Stadt erlebt, in der 60 Jahre nach Ende des Krieges dessen Folgen so direkt spürbar sind. Dennoch ist Warschau in den NS-Diskussionen in Deutschland weitestgehend untergegangen, vielleicht abgesehen von Brandts Kniefall 1970. Noch 1957 konnte ein ausgewiesener und hervorgehobener Nazi-Architekt, der SA-Hauptsturmführer Konstanty Gutschow ungeniert feststellen, dass Warschau sowieso ein „Sanierungsgebiet“ gewesen sei und durch die vorsätzliche Zerstörung die Grundlage für eine Stadt geschaffen worden sei, „in der den Menschen eines Tages die Sonne wieder scheint“. Licht, Luft, Sonne, den Nazis sei dank.

Die Stadtstruktur Warschaus ist auch in einer weiteren Perspektive bemerkenswert. Im erweiterten Teil der aufgebauten Altstadt gibt es teure Boutiquen, internationale Modelabels haben dort ihre Shops. Das ist für die allermeisten Warschauer zwar unerschwinglich, aber hier kann man zumindest von dem träumen, was die Chicago Boys den Polen schon in den 1980ern versprochen haben. Die dünne Oberschicht hat sich hier also ihr ganz reales Refugium geschaffen, inklusive Staatspräsidentensitz und Uni. Die anderen gucken sehnsüchtig ein bisschen und fahren dann mit der klapprigen Straßenbahn zurück in die 95 Prozent, wo man große Schwierigkeiten hat, ein auch nur einfaches Lokal zu finden.

Warschau als städtebaulicher Ausdruck einer gebeutelten Gesellschaft. Walt Disney im neoliberalen Outfit und Licht, Luft, Sonne in einer Sonderform des suburban sprawl. Mit Altnazis Gnaden.

(Fotos: genova 2010, H. Konrad 2010, Wikipedia)

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15 Antworten zu Rekonstruktion und Geschichte (1): Warschau

  1. Maciej schreibt:

    Ich stamme aus Krakau (in Polen). In Krakau mag man Warschau nicht und sagt man, dass Warschau ekelig ist. Aber das ist nich wahr. Die Altstadt ist ganz schön und die Rest hat feine Atmosphäre. Ich mag das.

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  2. hanneswurst schreibt:

    Ich stamme aus Düsseldorf (NRW). Deine Beschreibung Warschaus passt auch sehr gut zu dieser Stadt. Die Altstadt ist nur geeignet, um schlecht angezogen und Eis schleckend durch die Gassen zu flanieren, das Regime der Brauereien gilt auch hier. Die restlichen 95% der Stadt sind mit klapprigen Straßenbahnen erreichbar und unansehnlich.

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  3. bersarin schreibt:

    „Die restlichen 95% der Stadt sind mit klapprigen Straßenbahnen erreichbar und unansehnlich.“

    Dies eben sind, ganz allgemein gesprochen, die interessanten Ort, hier wird es spannend. Eine Stadt erschließt sich von ihren Randlagen aus.

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  4. genova68 schreibt:

    Bersarin,
    vielleicht hätte ich das deutlicher schreiben müssen: Die Randlagen einer Stadt interessieren mich selbstverständlich, aber auch das war in Warschau ernüchternd. Es sind kaum Leute irgendwo zu sehen, selbst in dem rechtsweichselschen Praga, wo noch viel Altbausubstanz da ist (da standen seinerzeit schon die Sowjets und warteten, bis die Deutschen linksweichselisch alles kaputtgemacht hatten) ist es tot. Kein einziges Restaurant oder Lokal, ein einziges Café. Leere. Großes Gedränge in diesem Viertel nur auf dem Kleiderflohmarkt im Stadtpark. Wir haben auch keine Gegend entdeckt, wo junge Leute in irgendeiner Weise ihr Ding machen würden.

    Warschau ist im Prinzip interessant, weil es diese einzigartige Geschichte hat. Aber das, was ich als Blick der Menschen auf die Stadt mitbekommen habe, ist ernüchternd. In Bukarest findest du diese spannende Gemenelage, von der aus sich die Stadt erschließt. Aber ich sah in Warschau nicht alles.

    Hannes,
    ein gewagter Vergleich. Auf mein geliebtes Bilk/Unterbilk lasse ich nichts kommen.

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  5. genova68 schreibt:

    Maciej,
    der Rest hat eine feine Atmosphäre? Da würde mich eine Erläuterung doch interessieren.

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  6. bersarin schreibt:

    Danke für diesen Bericht. Ab jetzt weiß ich, daß Warschau meine Stadt ist, daß ich dort ein Wochenende hinfahren werde, um zu photographieren. Genau diese Straßen, diese Atmosphäre suche ich. Das mag merkwürdig klingen, aber mich inspirieren solche Ort. Ich kann stundenlang die Allee der Kosmonauten entlanggehen. (Allein wegen des Namens.)

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  7. genova68 schreibt:

    Ja, zum Fotografieren ist es gut dort. Vielleicht hat mich die Stadt zum Teil auch deshalb genervt, weil ich sie nicht so gut kategorisieren konnte. Jedenfalls war dort definitiv nichts los. (Lag aber vielleicht auch am Sommer.)

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  8. Tony schreibt:

    Auf die Restauration folgt der Vormärz. Aber leider nicht automatisch…

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  9. InitiativGruppe schreibt:

    München, du hast es besser.
    Bei uns sind die Innenstadtrandgebiete attraktiv. Man wohnt hier gut und meist nicht allzu teuer (für Münchner Verhältnisse), an allen Ecken Geschäfte, Lokale, Schulen, kleine Plätze, kleine und größere Parks, alles gut erreichbar, gut verkehrsvernetzt, gut gemischt (alt und neu, arm und reich, links und rechts, migrantisch-nichtmigrantisch). Kein Wunder, dass hier die Hochburgen der Grünen liegen …

    München, die „Hauptstadt der Bewegung“, hat Glück im Unglück gehabt. Viel war zerstört, aber nicht so viel wie in Berlin, Köln, Hamburg, Frankfurt … Und nach dem Krieg hat die konservative SPD hier den Wiederaufbau etwas behutsamer betrieben als die Genossen in den anderen Metropolen.

    Traurig, was du da über Warschau geschrieben hast, genova. Was machen da die geselligen Polen, außer dass sie sich privat besuchen? Und müsste nicht unter marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten eine Kneipe nach der andern in diesen Wohnvierteln aufmachen?

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  10. genova68 schreibt:

    IG,
    was die Polen machen, habe ich mich auch gefragt. Warschau schien mir diesbezüglich sehr anonym, kein Vergleich mit den Dörfern in der Provinz, wo die Leute viel mehr draußen sind und sich deshalb ein teilweise italienisches Fare-una-passegiata-Gefühl einstellt (weniger allerdings ein Fare-una-bella-figura-Gefühl). Es ist interessant: Wenn man durch Ostbrandenburg und Ostsachsen radelt und dann die Grenze nach Polen überquert, stellt man fest, dass auf der deutschen Seite die Orte tot sind, renoviert, aber tot, kein Mensch, nirgends. Auf polnischer Seite ist es genau umgekehrt, viele Menschen, alte Bausubstanz. Auch die beiden Hauptstädte scheinen spiegelbildlich zu funktionieren, wenn auch genau anders herum.

    Vielleicht war es aber auch im Realsozialismus eher so, dass man sich zuhause traf? Und das hat sich rübergerettet? Ich weiß es nicht.

    Tony, dein Wort in der Polen Ohr.

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  11. Pingback: Rekonstruktion und Geschichte (2): Dresden « Exportabel

  12. besucher schreibt:

    Die Polen sind in Ihrem Habitus die slawischen Italiener. Liegt wohl zum großen Teil am Katholizismus.

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  13. genova68 schreibt:

    Und wo zeigen sich die konkreten Auswirkungen dieses slawischen Italienismus? Ästhetische Verbindungen zwischen Polen und Italien herzustellen sind gewagt. Oder was meinst du mit Habitus?

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  14. besucher schreibt:

    Der Begriff „Mentalität“ beschreibt es wohl besser.
    Es ist eine etwas beschwingte Leichtigkeit im Umgang miteinander zu beobachten. Es wird viel spontan organisiert und improvisiert. Man legt Wert auf seine katholische Identität und Feiertage ohne dabei dogmatisch und verbissen zu werden. Viele Dinge funktionieren nicht so wie man sie sich aus deutscher Sicht vorstellt oder laufen langsamer ab. Man macht auch „Bella figura“. Es wird gern geschmiert. (Die Großen schmieren überall, in Polen und Italien läuft es auf kleinerer Ebene)

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  15. genova68 schreibt:

    Ah, ja, verstehe, sowas ähnliches hat der Stasiuk, der Schriftsteller, geschrieben, kurz bevor Polen der EU beitrat. Tenor: „Ihr Deutsche werdet euch noch wundern, bei uns läuft das alles nicht so nach Plan.“

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