Von Pulp Fiction und den schlauen Schweinen

Gentrifizierung, die soundsovielte, aber es ist immer wieder faszinierend, die umfassende Lähmung des sozialen Denkens – oder überhaupt des Denkens einer Alternative – im Neoliberalismus zu studieren. Dieses Mal in der FAZ.

Deren Wirtschaftsredakteur Christoph Schäfer berichtet über die neue Mietpreisbremse (die naturgemäß nur ein SPD-Placebo ist) von Justizministerin Barley und berichtet ganz richtig und schon bekannt, dass sich beispielsweise in Berlin die Miete bei Neuvermietungen (nicht nur Neubau!) verdoppelt hat.

Warum ist das so? Schäfer schreibt mit entwaffnender, wie man sagt, Offenheit:

Denn selbst für mittelmäßige Wohnungen stehen Dutzende Menschen Schlange. Nur zu verständlich, dass die Besitzer solcher Wohnungen ihre Mieten kontinuierlich nach oben schrauben. Wer würde schon anders handeln?

Genau. Warum sozial sein, wenn man staatlich gefördert asozial sein darf? Im Prinzip hat Schäfer recht: Den einzelnen Vermietern, selbst den immer dominanter auftretenden Investoren, einen Vorwurf zu machen, ist legitim, aber egal. Wenn die Gesellschaft ihn lässt, wird jeder zum Schwein. Wer würde an der Tankstelle den vollen Preis bezahlen, wenn er einfach so wegfahren könnte? Der Unterschied: Tankstellen sind gut bewacht, Hauseigentümer dürfen Schweine sein, ganz legal im Sozialstaat. Vielleicht spricht man deshalb in Sachen Kapitalismus manchmal von einem Schweinesystem.

Wie auch immer: Die Bevölkerungszunahme beträgt in Berlin pro Jahr ein Prozent. Das ist lächerlich und in einer fortgeschrittenen Wirtschaft wie der unsrigen prinzipiell leicht zu stemmen. Man baut einfach die erforderliche Anzahl der Wohnungen und verliert kein weiteres Wort darüber.

Nicht so im entwickelten Kapitalismus: Je knapper der Bestand, desto lukrativer die Rendite und je mehr Renditejäger weltweit unterwegs sind, desto besser. Es geht nur teilweise ums Wohnen.

Interessant aber, was Schäfer zum sogenannten sozialen Wohnungsbau schreibt:

Die Bundesregierung will dafür bis 2021 mindestens zwei Milliarden Euro zusätzlich ausgeben. Damit lassen sich etwa 20.000 Wohnungen bauen, in die dann grob geschätzt 50.000 Menschen einziehen können.

Das bedeutet pro Wohnung 100.000 Euro Baukosten und pro Person 40.000. Leider schreibt die FAZ nichts zur Größe der Wohnung, aber bei 2,5 Personen pro Wohnung kann man im sozialen Wohnungsbau mit etwa 70 Quadratmeter rechnen. Das wären runde 1.400 Euro Baukosten pro Quadratmeter. Für einen Neubau. Auch diese Zahl ließe sich senken, erwiesenermaßen auf deutlich unter 1.000 Euro, wenn man sich des Themas preiswertes Bauen überhaupt mal wieder annehmen würde. Passiert natürlich nicht.

Konkret: Bei 1.000 Euro Kosten kostete eine 50-Quadratmeter-Wohnung 50.000 Euro. Dabei zahlte niemand drauf und jeder Bauarbeiter bekäme seinen ordentlichen Tariflohn. Bei den aktuell berechneten 1.400 Euro wären es 70.000 Euro. In einem Altbau wohnt man kostendeckend für drei oder vier Euro den Quadratmeter. Alles weitere ist Ausbeutung um müsste gesetzlich als Wucher deklariert sein.

Aktuell zahlt man in Berlin für eine 50-Quadratmeterwohnung im Altbau eher 220.000 oder 240.000 Euro. Ohne jede Luxussanierung. Man sieht hier die Dimensionen der Umverteilung von unten nach oben. Auf den Automarkt übertragen ist das in etwa so, als wenn man dem Kaufwilligen erzählt, er müsse sich nun in eine Warteliste eintragen, um längere Zeit auf einen VW Polo zu warten, für den er dann den Preis eines VW Phaeton zahlen darf. Der gewiefte Autoverkäufer erzählt dem Interessenten dann noch, dass der Polo schließlich ein Luxuswagen sei.

Preiswertes Wohnen für alle, genügend Wohnungen für alle, Berlin mit vier oder 4,5 Millionen Einwohnern: alles kein Problem. Es ist Platz da, es sind die ökonomischen Ressourcen vorhanden, lediglich bei den Bauarbeitern müsste man vielleicht mehr Ausländer anwerben. Aber auch das dürfte kein Problem sein.

Es fehlt der Wille oder besser gesagt: Das Geschäft ist fürs Kapital einfach zu lukrativ.

Die FAZ sieht es realistisch:

Am Ende aber bleibt die bittere Erkenntnis: Das Problem, dass es in den begehrten Städten zu wenig bezahlbaren Wohnraum gibt, ist schlicht zu groß, als dass es dafür eine einfache Lösung gäbe.

Vielleicht ist „die neue soziale Frage“ sogar gar nicht lösbar. In Städten wie London und New York kosten selbst Besenkammern und Kellerwohnungen schon jetzt ein kleines Vermögen. Die Vermutung liegt nahe, dass es in München bald nicht viel anders aussieht.

Nochmal: Ein Prozent Bevölkerungszuwachs, billiges Bauen, preiswertes Wohnen. Alles eine ökonomische und technische Selbstverständlichkeit, die im herrschenden System zu einem nicht lösbaren Problem heraufbeschworen wird. Dieses Problem ist laut FAZ „schlicht zu groß“. Man traut seinen Augen nicht und es ist doch wahr. Man könnte angesichts solch offensichtlicher Absurdität zu dem Schluss kommen, dass dieses System am Ende ist. Eigentlich sein müsste.

Man kommt sich vor wie bei Pulp Fiction: Die Bonnie-Situation auf neoliberalistisch. Wobei der Unterschied ist, dass dort die Situation tatsächlich gelöst wird.

Die soziale Frage ist nicht lösbar. Man kann so einen Satz zweifach interpretieren: Entweder glaubt Herr Schäfer tatsächlich, dass die Sachzwänge oder die Umstände so beschaffen sind, dass „wir“ das nicht schaffen. Oder es läuft darauf hinaus, dass wir die soziale Frage nicht lösen müssen: Die Menschen lassen sich zurichten, sie machen es mit.

Und in der Tat: Auch solche Meldungen werden die neoliberal Gelähmten nicht dazu bringen, Barrikaden zu errichten. Wichtiger scheint es vielen Menschen mit dunklem Teint durch die Straßen zu jagen. Überhaupt ist es interessant, dass in diesen neoliberalen Zeiten mit ihrem There-Is-No-Alternative-Prinzip sich nur Naziaffine als eine Alternative für Deutschland anbieten. Entweder TINA oder NAZI.

Die Schweine sind schlauer.

Zusatz:

Erwähnenswerte Lösungsansätze gibt Laura Weißmüller in einem Interview mit dem Architekten Christian Schöningh in der Süddeutschen Zeitung. „Es darf kein privates Eigentum mehr an Baugrund geben, sondern nur noch die Nutzung davon“, sagt er ganz richtig. Boden ist von niemandem gemacht und für alle da und könnte als Pacht vergeben werden.

Schöninghs Perspektive auf das Problem ist wegweisend:

Das größte Problem ist, dass Immobilien und damit in Summe auch Stadtentwicklung, kurz: all unsere gebaute Umwelt, zunehmend aus der Sicht der Finanzinvestoren gehandhabt werden. Grund und Boden sowie die Gebäude darauf haben wichtige Funktionen im Finanzsystem. Dort werden die Schulden gemacht und untergebracht, die erforderlich sind, um auf der anderen Seite Unmenge an Guthaben zu erzeugen.

Unmengen an Guthaben zu erzeugen, indem man sozusagen den Boden und Häuser besetzt.

Schöninghs Idee funktioniert seiner Meinung nach

durch die Vergabe eines Grundstücks mit einem Erbbaurecht. Denn damit werden Boden und Haus in zwei Eigentumspositionen aufgeteilt. Die Kommune bleibt Eigentümerin des Bodens und vergibt das Recht, ein bestimmtes Haus dort zu bauen. So wie heute mit Planungs- und Baurecht etwa der Neigungswinkel eines Daches durchgesetzt werden kann, würde das Erbbaurecht finanzielle und soziale Aspekte des Wohnens regeln und sichern. Das besonders Schöne an Erbbaurechten ist, dass sich für Bebauungsmöglichkeiten, die günstiges Wohnen verlangen, nur noch solche Bauherren interessieren, die die gleichen Interessen verfolgen, nämlich kommunale Wohnungsbaugesellschaften sowie Selbstnutzer und Genossenschaften.

Das mag noch etwas indifferent sein, vor bei der Frage, wie das Recht, ein Haus zu bauen, genau aussieht. Aber prinzipiell ist schon klar: Legt man die Mietsätze niedrig, halten sich die Renditejäger raus und Genossenschaften, Baugesellschaften und Selbstnutzer kämen zum Zug. Es muss jegliches Renditestreben im Bausektor eliminiert werden, dann gibt es auch Wohnungen. Renditestreben bei den Baumaterialien stünde auf einem anderen Blatt, denn dort funktioniert in der Regel der Markt.

Es ist das Gegenteil dessen, was uns die Mehrzahl der Experten täglich erzählen. Je teurer die Autos sind, die produziert werden, desto weniger werden davon gekauft.

Man könnte Schöningh noch kritisieren, wenn er im Folgenden von „den scheinbaren Widersprüchen“ zwischen Kapital- und Nutzerinteressen spricht. Diese Widersprüche sind nicht scheinbar, sondern objektiv.

Die Richtung aber stimmt. Die Schweine davonjagen und Bonnie-Situationen auf solche jenseits des Profitinteresses begrenzen.

(Foto: genova 2018)

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2 Antworten zu Von Pulp Fiction und den schlauen Schweinen

  1. krisenblogger schreibt:

    Es gibt nur eine Art, das Problem dieses Schweinesystems zu lösen, und das ist die, wie sie in „Animal Farm“ aufgezeigt wird.

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  2. genova68 schreibt:

    Verstehe ich nicht. Die Schweine übernehmen die Herrschaft?

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