Der Hass aufs Authentische: Spaziergang durch ein Neubaugebiet

Die besten ethnologischen Museen sind Neubaugebiete in deutschen Kleinstädten. Man erfährt dort anschaulich, wie Neubaugebietbewohner gerade fühlt und denkt.

Ein baulich relativ neuer Trend im Neubaugebiet ist das dreigeschossige Haus, bei dem die beiden Obergeschosse schon unter einem Satteldach untergebracht sind. Es gibt auch Mehrfamilienhäuser mit fünf Geschossen und davon drei unterm Satteldach. Dominante, weit heruntergezogene Satteldächer sind überall zu finden, vermutlich schon in den kommunalen Bauordnungen festgelegt, und prägnanter Ausdruck unserer angstbesetzten durchneoliberalisierten Gesellschaft, in der der Einzelne sich allen Ernstes von einem Bauindustriesatteldach Schutz verspricht. Man nimmt den Nachteil schräger Wände in zwei Etagen in Kauf, nur um den heimeligen Eindruck eines allumfassenden Satteldachs herzustellen.

Auch wichtig: kein Satteldach ohne Gaube. Der Neubaugebietbewohner drückt damit seine Individualität aus. Mit der Gaube zeigt er, dass man sich irgendwas Menschliches bewahrt hat.

Ein weiteres Neubaugebietsphänomen ist die Gartengestaltung. Es fällt auf, dass es praktisch keine Muttererde mehr gibt. Die Muttererde wurde durch Steine ersetzt, meist in weißer oder schwarzer Farbe. Ich habe noch nicht ganz verstanden, woher die dort wachsenden Pfanzen ihre Nährstoffe bekommen, aber vielleicht sind diese Pflanzen so gezüchtet, dass sie eine bestimmte Zeit ohne Nährstoffe auskommen und dann sterben. Oder es leuchtet nach der bestimmten Zeit eine rote Warnlampe und die Pflanze wird ausgewechselt. Oder sie hat nie gelebt.

Der Neubaugebietbewohner hasst Natur. Die Pflanzen, die er pflanzt, nennt er ganz richtig Zierpflanzen, und zur Zierde, wie man sagt, sind sie da. Das ist sozusagen ein natürliches Kennzeichen dieser Klasse. Natur ist dem Neubaugebietbewohner nur gut, wenn sie keinen Schmutz macht und in ihrem Umfeld nichts Unkontrollierbares (Insekten etc.) passiert. Es gibt viele nichtschmutzmachende Gewächse und diese schmutzlosen Gewächse dürfen gerne aus fremden Kulturen kommen, im Gegensatz zu den Nachbarn. Der Neubaugebietsgarten erinnert entfernt an französische Barockgärten: Alles im Griff haben. Instrumentelle Rationalität treibt hier neue Blüten.

Der Neubaugebietbewohner hasst aber auch Beton. Eine Sichtbetonwand wäre ein Affront, ähnlich dem schmutzmachenden Gewächs. Er liebt gelbgestrichene Putzwände. Ob sich darunter Ziegeln oder Beton befinden, ist egal. Die Fassade zählt.

Man kann wohl sagen, der Neubaugebietbewohner hasst generell alles Authentische, obwohl er seinem Umfeld permanent den Anschein totaler Authentizität geben will. Der Garten ist geregelt, die Zierpflanzen wachsen symmetrisch und haben die immergleiche Farbe haben: dunkelgrün, auch im Herbst und im Winter. Neubaugebietsgärten kennen keine Jahreszeiten.

Mitten durch das kürzlich von mir besuchte Neubaugebiet in einer westdeutschen Kleinstadt fließt ein naturbelassenes Bächlein, klar und mit viel Grün durchsetzt. Es wimmelt dort von Leben. Aber niemand interessiert sich dafür, auch kein Kind. Vielleicht ist den Neubauviertelbewohnern bewusst, dass ein Blick in das klare Bächlein ihnen sämtliche Lebenslügen ins Hirn spiegeln würde. Der Blick auf und in einen naturbelassenen Bach würde bei allen Neubauviertelbewohnern zu Raserei und Amokläufen führen, so meine seriöse Einschätzung. Man meidet deshalb den mitten durchs Neubaugebiet führenden Bach instinktiv. Er ist eine No-Go-Area im Neubaugebiet, ein forbidden place.

Unbeirrt auch die konsequente Haltung des Neubaugebietbewohners zu Insekten: Im Neubaugebiet wird alles dafür getan, dass das Ungeziefer keine Chance hat. Folglich bekommen Kinder Panik, wenn ein unbekanntes Flugobjekt, vielleicht aus dem benachbarten naturbelassenen Bächlein, auf ihrem Arm landet. Natur ist schön, wenn Instagram sie farblich gestaltet. Von unkontrollierbaren Geschmeiß war nie die Rede.

Der Anschein totaler Authenzität: Nach der Absage ans Futuristische Ende der 1960er Jahre wollte man zurück zur Natur. Er ist versperrt aus ideologischen Gründen. Übrig bleibt das Imitat.

(Fotos: genova 2019)

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11 Antworten zu Der Hass aufs Authentische: Spaziergang durch ein Neubaugebiet

  1. stadtauge schreibt:

    Ich unterstreiche jeden Satz. Ich empfinde nach, ich leide mit. Ähnliche Überlegungen (oder besser gesagt Verzweiflungen) treffe ich auch, wenn ich durch diese wunderschönen deutschen Neubaugebiete laufe.
    Lieben Dank! Vernetzung im Internet hat ja auch was Positives. Zum Beispiel wenn man merkt, dass Andere auch solche Beobachtungen machen und sich daran abarbeiten. Geteiltes Leid – halbes Leid.
    In diesem Sinne:
    Vielen Dank für diesen Beitrag!
    LG Daniel

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  2. genova68 schreibt:

    Gern geschehen und danke fürs Lesen!

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  3. Hugo schreibt:

    Von den photographierten Häusern hat keines ne Gaube ;) .
    Diese Schottervorgärten greifen auch in gewachsenen Dorfstrukturen um sich; ich weiß ned, ob das vermeintlich beste Argument=pflegeleicht/zeitsparend hinhaut, spätestens im dritten Jahr hat mensch genug Biomasse im Schotter und diverse freifliegende Sämereien wie den allseits beliebten Löwenzahn, daß mensch da zu Pflegemaßnahmen greifen muß, die wollen das ja alles „ordentlich“, die tun ihren Schotter bestimmt auch alle paar Wochen kärchern so wie sie davor Rasen gemäht haben.
    So ne Himbeerhecke auf paar qm ist eigentlich auch pflegeleicht und sieht gut aus; einmal im Jahr rundrumschnibbeln und ab und an die vorwitzigen Sprieße in den Heckenkomplex flechten, wenns zu trocken ist, mal paar Liter Wasser, gut ist.
    Und paar Bio-Himbeeren hat mensch auch noch.
    Müßtest mal meinen Vorgarten sehen, der produziert außer Himbeeren, Sanddorn, Stachelbeeren auch noch Erdbeeren, Möhren, Kohl, Tomaten…

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  4. genova68 schreibt:

    Alle anderen Häuser hatten Gauben :-)
    Vielleicht sind die Steine nicht pflegeleicht, ich weiß es nicht. Anfangs wohl schon, wie du schreibst, und länger denkt eh kein Mensch. Es hat wohl mehr mit der Optik zu tun. Der Stein wirkt zuverlässiger, aus der Erde kommt erwartbarer Unkraut.

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  5. philgeland schreibt:

    Sehr interessant, vielen Dank für die Mühe, diese Sichtweise in einem Post zusammenzufassen. Unter Neubaugebiet verstand man ja in „früheren Zeiten“ eher die so genannten Jahre des „Wiederaufbaus“. Und wenn man sich einige dieser Bilder ansieht, so unterscheidet sich meines Erachtens die Architektur „jener Jahre“, also der Fünfziger und Sechziger davon nicht sonderlich. Es erscheint wie ein „Upgrade“, eine Version 2.0. Die Vorgärten aber … oje … kein Kommentar.

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  6. genova68 schreibt:

    Hallo, Philgeland,
    Neubaugebiet als Begriff des Wiederaufbaus: Liegt wohl daran, dass nach dem Krieg viel neu gebaut werden musste. Ich kenne den Begriff als einen für klassische Stadterweiterung: Die Gemeinde markiert einen Acker als nun Baugebiet. In der Regel wurden dort freistehende und Einfamilienhäuser gebaut.

    Vielleicht bringen es meine Fotos nicht gut rüber (gut möglich sogar): Die Architektur heute ist grundverschieden von der der fünfziger Jahre. Damals wurde karger gebaut, wesentlicher, man hatte weniger Geld und es gab keine Postmoderne. Beispielsweise ist mir kein Haus aus den Fünfzigern oder Sechzigern bekannt, wo über der Eingangstür ein kleines Satteldach angebracht wurde. Man kam aus irgendwelchen Gründen offenbar nicht auf diese Idee. Kein Neubaugebiet der Fünfziger mit Erker, würde ich sagen. Zumindest ist das mein Eindruck, wenn ich mir Neubaugebiete aus den Fünfzigern, den Siebzigern und von heute anschaue. Aber das ist natürlich immer ortsgebunden.

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  7. philgeland schreibt:

    Hallo genova68, ich verstehe, was Sie meinen, aber wenn man – sagen wir – Satteldach und Erker weglässt, dann scheint es doch ähnlich „kahl“, oder? Trotz aller Neuerungen … (und anderer Voraussetzungen, wenn man an die Wohnungsnot nach dem Ende des Krieges denkt)?

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  8. genova68 schreibt:

    Kahl im Sinne davon, dass die Häuser nicht barock sind und nicht historistisch, stimmt. Allerdings sind die Dachform und der Erker wesentliche Gestaltungsmerkmale. Ich bin in einem 70er Jahre-Neubaugebiet aufgewachsen und sehe die Unterschiede. Ich habe darüber hinaus gerade einen 50er/60er Jahre-Haustypus im Kopf, ein Bild davon habe ich auch schon hier gepostet, leider weiß ich nicht mehr, wann.

    Ich meine eher sowas wie die beiden Häuser rechts:
    https://www.sanieren-profitieren.de/123artikel35772_943.html

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  9. philgeland schreibt:

    Ja, „die Not war der eigentliche Architekt“. Aber: vor wenigen Jahren war ich für ein paar Tage Gast in einem solchen Haus. 50er-Jahre-Siedlung am Rande meiner Heimatstadt. War eine gute Erfahrung. Nüchtern aber gut. (Vor allem die geräumige Küche mit einem weisslackiertem Holzschrank, der unverändert – wohl nur ein paar Mal gestrichen – dort vorhanden war.) Ganz abgesehen von Erinnerungen an die Kindheit.

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  10. philgeland schreibt:

    P. S. Schon wieder ein P. S., sorry: Es war ein Einbauschrank, solide in der Wand versenkt. Den keiner herausgerissen hat.

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  11. genova68 schreibt:

    Die Not war der Architekt, ja, das ist nicht unbedingt das Schlechteste. Man konzentriert sich auf günstige, gute Lösungen, sowohl ökologisch als auch sozial eine sinnvolle Herangehensweise. So wie die Platte an sich eine gute Idee ist, nur die Umsetzung im realen Sozialismus war unbefriedigend. Ich vermute ja, dass die allermeisten Menschen eine funktionierende und möglichst günstige Wohnung wollen. Das, was funktioniert, empfindet man im Alltag immer als bereichernd. Die Bauindustrie ist halt, wie jede andere auch, darauf ausgerichtet, den Ertrag zu steigern. Das geht mit reinem Funktionieren nicht so gut. Aus reiner Funktion erwüchse auch eine ansprechende Ästhetik.

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