Regenscheid und das Stockholm-Syndrom

Regenscheid- so heißt Lüdenscheid im Volksmund, heißt es, weil das die Stadt mit den wenigsten Sonnenstunden Deutschlands ist. Kaum zu glauben, dass es in einem Land fast ohne Sonne einzelne Städte mit noch weniger Sonne geben soll. Nachprüfen kann das niemand: Wer fährt schon nach Lüdenscheid? Ins Sauerland?

Lustig jedenfalls, was die Zeit aktuell (7.9., S. 5) über Lüdenscheid schreibt. Sie portraitiert einen CDU-Wahlkämpfer in der Stadt im August: Es regnet natürlich und kalt ist es auch.

Dann – er steht im Regen neben einer Frau, die ihn wählen soll – kommt es zu folgendem denkwürdigen Dialog:

Sie: „Haben Sie denn keinen Schirm?“

Er: „Als Sauerländer redet man nicht übers Wetter und man hat auch keinen Schirm.“

So stelle ich mir Bergbevölkerung vor: Stur, stumm, stumpf und stoffelig. Man benutzt keinen Schirm, weil man ihn dann ständig benutzen müsste, weil es ständig regnet und es dann offensichtlich würde, wie unglaublich scheiße das Wetter in Lüdenscheid ist. Die Schirmbenutzung hieße also: nachhaltige Linderung des Problems um den Preis, dass man das ganze Ausmaß des Problems erst mitbekommt und man es ständig vor Augen hat. Der Schirm als Symbol des vollständigen Scheiterns. Der Schirm als Gegenstand, der in Lüdenscheid von allen Gegenständen am dringendsten benötigt würde und der deshalb zugleich der verhassteste Gegenstand ist. Die Benutzung eines Regenschirms brächte einem Sauerländer eine Ahnung von Kultur, die leise Vorstellung von einem besseren Leben. Zumindest wäre er nicht mehr ständig nass. Und genau deshalb lehnt der CDU-Mann den Schirm ab. Der Sauerländer will in seiner vollumfänglichen Katastrophe keine Ahnung vom Besseren, er will in seinem Morast hocken bleiben. So lässt sich das Elend besser ertragen, glaubt er. Lieber bei 16 Grad und Dauerregen pitschnass werden, als mit einem Schirm sein totales Scheitern eingestehen. Nass steht man immerhin noch aufrecht und ist bei Bedarf zäh wie Kruppstahl.

Wo der Schirm als Kulturaccessoir gelten kann, wenn es hin und wieder mal regnet, in einem südlichen Land beispielsweise, ist er im Sauerland das Werkzeug weißer Folter.

Es ist ähnlich wie beim Norddeutschen, der bei 18 Grad schon über die Hitze klagt: Die wenigen Tage im Jahr mit einer halbwegs akzeptablen Temperatur könnte man genießen. Oder feststellen, dass man an rund 360 Tagen im Jahr in einer großen Scheiße wohnt. Also lässt man das Angenehme gar nicht erst an sich ran. Das ist wohl nur menschlich: Hängen die Trauben zu hoch, beginnt man sie zu hassen.

Vermutlich gibt es in Deutschland viele solcher degenerierter und vollkommen benachteiligter und vergessener Regionen und Bergregionen mit benachteiligter Natur und benachteiligten und vergessenen und tief im Innern verzweifelten Menschen. Doch statt diese grauenhaften und durch und durch lebensfeindlichen Zonen für immer zu verlassen und dadurch die eigene Situation erheblich zu verbessern und aus der Degeneration und dem Vergessen und der Benachteiligung herauszukommen, bleiben sie in diesen Löchern und Regenlöchern, reden nicht über das Katastrophale und somit über ihre Urkatastrophe und lehnen Regenschirme ab.

Der Sauerländer will also seine Benachteiligung, den Dauerregen, die allumfassende und überall und jederzeit sichtbare Katastrophe. Alles andere wäre Revolution. In Regenscheid. Und da sei Gott vor.

Dieser Beitrag wurde unter Alltagskultur, Deutschland abgelegt und mit , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

2 Antworten zu Regenscheid und das Stockholm-Syndrom

  1. Annika schreibt:

    Herrlicher Text, hab sehr gelacht.

    Like

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..