Habermas – moderne und postmoderne Architektur

Jürgen Habermas ist nun 90. Was fällt mir dazu ein? Eine äußerst verdienstvolle Rolle im Historikerstreit, seinerzeit in den 1980ern. Wie die Machtkonstellation in diesem Fall wohl heute aussähe? Würden die Reaktionären und Rechtsradikalen heute genauso deutlich abserviert? Dann das kommunikative Handeln, das gerecht sein können soll, herrschaftsfrei, Diskursethik mit einer idealen Sprechsituation, all das auf vielen hunderten und tausenden von Seiten dargelegt, vermutlich ein paar Seiten zuviel. Schaut man sich die Entwicklung seitdem an, ist man wohl eher enttäuscht. Kommunikation ist Herrschaft, mittlerweile von der herrschenden Klasse tagtäglich ausgefeilter und perfider und also menschenverachtender betrieben denn je, darüber täuscht auch kein Rezo hinweg. Als normativer Anspruch jedoch ist der herrschaftsfreie Diskurs immer noch state of the art und ein der Aufklärung Verpflichteter kann auch nicht anders.

Bei Habermas erinnert man sich auch an die Verwässerung der Kritischen Theorie, vielleicht war es aber vor allem der Sound, der nun fehlte. Es gibt offenbar auch weniger eindrucksvoll Zitierfähiges von Habermas als von Adorno. Das beeinträchtigt die Mythenbildung, aber das sollte von Vorteil sein.

Schön jedenfalls dieses Bild:

Habermas rechts hinten, noch in der zweiten Reihe, sich am Kopf kratzend und mit schönem, vollem Haar, während die beiden freundlichen Herren im Vordergrund sich einen tollpatschig anmutenden Händeschlag geben, der aber sicher von Herzen kam. Bemerkenswert ist noch der Stock in Adornos Einstecktuchjacketttasche. Es handelt sich vermutlich um ein filigranes sex toy, das er aus Kalifornien mitgebracht hat.

Wie auch immer, ich habe von Habermas so wenig Ahnung wie von sex toys. Höchst lesenswert ist jedoch nach wie vor der Habermassche Aufsatz aus dem Jahr 1981 mit dem harmlosen Titel „Moderne und postmoderne Architektur„. Habermas schaffte es hier auf 20 Seiten, die damals vielfältigen Bemühungen, die Moderne und die moderne Architektur zu diskreditieren, differenziert zu desavouieren. Vielleicht war das so eine Art Vorläufer des Historikerstreits sechs Jahre später.

Der Aufsatz entstand nach der venezianischen Architekturbiennale 1980, die die Kulisse, die Fassade, die Oberfläche betonte und beliebige Anleihen an der Vergangenheit nahm. Hier etablierte sich die Postmoderne endgültig. Habermas sieht demnach einen breiten Konsens der Kritik an den in den 1970er Jahren real sichtbaren Auswüchsen moderner Architektur:

„Einig sind sich alle in der Kritik an der seelenlosen Behälterarchitektur, an dem fehlenden Umweltbezug und der solitären Arroganz ungegliederter Bürogebäude, an monströsen Großkaufhäusern, monumentalen Hochschulen und Kongresszentren, an der fehlenden Urbanität und der Menschenfeindlichkeit der Satellitenstäte, an den Spekulationsgebirgen, den brutalen Nachkommen der Bunkerarchitektur, der Massenproduktion von Satteldachhundehütten, an der autogerechten Zerstörung der Citys usw.“

Die Frage nach den Möglichkeiten einer Korrektur dieser Zustände allerdings spaltet die Lager,

„je nachdem, ob sie das Übel kosmetisch oder systemkritisch angehen.“

Habermas sieht bei den Postmodernen in Bezug auf die Architektur zwei Hauptgruppen: Zum einen die „Neukonservativen“, die die „feindselige moderne Architektur“ zugunsten „wiedererweckter Traditionen“ aufgeben wollen, zum anderen die „radikalen Wachstumskritiker“. Erstere

„begnügen sich mit stilistischen Verkleidungen dessen, was ohnehin geschieht.“

Die Zweiten

„setzen den Hebel tiefer an, wollen die ökonomischen und administrativen Zwänge des industriellen Bauens unterlaufen, zielen auf eine Entdifferenzierung der Baukultur.“

Beide wollen die Moderne überwinden.

Dankenswerterweise lenkt Habermas die Aufmerksamkeit zuerst auf die vormoderne Zeit, die die Entstehungsbedingungen der Moderne in der Architektur schuf. Im 19. Jahrhundert liefen zwei Entwicklungen immer weiter auseinander, nämlich einerseits die technisch-ökonomische: Es entstand der Industriekapitalismus mit dem Proletariat, das massenhaft Wohnungen in der Stadt brauchte, es enstanden neue Bauaufgaben wie Industriegebäude und Bahnhöfe, Tunnels und Brücken, Kaufhäuser und Messehallen, und es entwickelten sich neue Baumaterialien wie Gusseisen, Glas und Stahlbeton und neue Produktionsmethoden.

Andererseits fand die Architektur keine Antworten – weder konstruktive noch ästhetische – auf die neuen Herausforderungen. Im Gegenteil, man bemüht sich zu kaschieren, und dieser Historismus trieb immer wildere Blüten. Mit der Zunahme kapitalistischer Wirtschaftstätigkeit wurde der Klassizismus zurückgedrängt, aber nicht zugunsten von etwas Neuem, sondern zugunsten alter Stile. Je notwendiger eine ästhetische Reaktion auf die sich massiv verändernde Umwelt gewesen wäre, desto blinder, ignoranter und geistloser entwickelte sich die Architektur. Neobarock, Neorenaissance, Neogotik oder Altdeutsch, erst baulich getrennt, später alles zusammen in einen Bau gemixt, und schließlich der Neoklassizismus. Spätestens hier war offensichtlich, dass die ästhetische Entwicklung mit ihrer Weigerung, das Neue zu visualisieren, in eine Sackgasse geraten war.

Man war in weiten Teilen des intellektuellen Überbaus offenbar der Ansicht, dass man am Ende der Kunst – oder zumindest der Baukunst – angekommen sei.

Und seien wir ehrlich: Sowas wie diese Wuppertaler Bonzenvilla ist eine einzige neureiche und billige und anbiedernde und gleichzeitig protzige und klotzige und peinliche und durch und durch lächerliche Geschmacklosigkeit, über die wir nur heute, aus sicherer zeitlicher Entfernung, schmunzeln können:

Noch unangenehmer wirkt der Historismus vor dem Hintergrund des „Einbruchs der Spekulation in den Lebensbereich des privaten Wohnens“, wie Habermas schreibt. Der Arbeiter und die Arbeiterin hausten unwirtlich, und je unwirtlicher die Verhältnisse wurden, desto mehr Aufmerksamkeit widmeten Architekten der Oberfläche und damit dem Klischee, der heilen Welt.

Die Architektur hatte also immer weniger mit der Lebenswelt zu tun.

Das sich immer deutlicher formierende Bürgertum nahm eine vertrackte Rolle ein: Ökonomisch emanipierte es sich und wies den Adel in die Schranken, ästhetisch versuchte es sich in der Kopie, also dem Historismus, was ein Zeichen dafür ist, dass der emanzipatorische Aspekt ein rein zweckgerichteter war. Dem geschichtlichen Fortschritt entsprach kein ästhetischer. John Ruskin und William Morris nahmen sich dieses Problems auf der Ebene der massenprodzuierten Güter an, aber sie waren kaum bereit, das Industriezeitalter als mehr zu betrachten denn als ein notwendiges Übel. Leute wie Henri Labrouste, der schon 1843 eine Bibliothek mit einem sichtbaren Eisengerüst – also mit einer sichtbaren modernen, neuartigen Konstruktion – baute, blieben Ausnahmen.

Es ist bemerkenswert, dass die Moderne in der Literatur wie in der Malerei schon längst angekommmen war, während die Architektenschaft sich weiterhin darin überbot, industriellen Zwecken Gewänder der Romanik, der Gotik, der Renaissance und des Barock überzuwerfen, als sei nichts passiert.

Und eben nicht nur die Veränderungen in der Produktion, sondern auch die kapitalistische Verschärfung der Verhältnisse, die „die Einstellung zu Bauen und wohnen veränderten“, wie Habermas meint, führte nicht zu einer anderen Architektur. Das spricht für ein schlechtes Gewissen auf beiden Seiten.

„Mit der historistischen Baukunst hat der Idealismus seine ursprünglichen Intentionen preisgegeben.“

schreibt Habermas in dem Architekturaufsatz, und zwar, weil der Idealismus im Historismus seine „Idee der Versöhnung“ preisgebe. Es gehe bei historistischer Architektur nur noch um

„die Dynamik der Kompensation einer verputzten, hinter Fassaden versteckten Wirklichkeit.“

Schließlich kommt um 1900 der Jugendstil als Kritik gegen eine

„Baukunst der Verdrängung und der Symptombildung. Nicht zufällig entwickelt zur gleichen Zeit Sigmund Freud die Grundzüge seiner Neurosenlehre. Die moderne Bewegung nimmt die Herausforderungen an, denen die Architektur des 19. Jahrhunderts nicht gewachsen war.“

Der Stil begann, sich für die Alltagspraxis zu interessieren. Und da blieb auch der Jugendstil nur eine Durchgangsstation.

Die Moderne mit radikal neuen Konzepten – architektonisch und städtebaulich – etablierte sich, und das war beileibe keine rein linke Angelegenheit. Konstruktivismus, Funktionalismus, Neue Sachlichkeit, organisches Bauen, der Razionalismo in Italien, zwischendurch noch der Expressionismus – es war eine wilde, hektische, kurze Zeit. Dann kam es zum Bauwirtschaftsfunktionalismus, alles bekannt. Die Postmoderne wollte zurück ins Heimelige. Habermas macht in dem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass der „Begriff der Stadt“ überholt sein könnte. Es klingt in der Zeit von Amazon und Onlineexistenzen sehr aktuell, wenn er schreibt:

„Mit unserem Begriff von Stadt verbindet sich eine Lebensform. Diese hat sich unterdessen aber so verwandelt, dass ihr der angestammte Begriff nicht mehr nachzuwachsen vermag.“

Die gesellschaftlichen Funktionen des städtischen Lebens sind heute andere, daran ändert auch keine postmoderne Architektur etwas. Sympathie empfindet Habermas allerdings mit dem postmodernen Robert Venturi, dessen decorated shed er als eine sinnhaltige Folge realgesellschaftlicher Veränderungen sah: Städte funktionieren als Zeichen, da sie keine reale Funktion mehr zu erfüllen haben. Die Produktion findet anderswo statt, der Handel mittlerweile zunehmend auch. Da reicht die Applikation auf der Wand.

Venturi erneuert hier gewissermaßen ein modernes Prinzip, nämlich die Einheit von Form und Funktion: Wenn die Funktion der Stadt nur noch eine repräsentative ist, dann ist die ornamentale Applikation eben Teil der Funktion.

Habermas grenzt sich, um das am Ende noch zu sagen, klar von der postmodernen Architektur ab, die

„U-Bahn-Entlüftungsschächte in das Taschenbuchformat einer palladianischen Villa“

verwandeln.

Alles andere als diese Abgrenzung hätte verwundert.

Das, was man an der Postmoderne als Kritik an der Moderne aufnehmen sollte, was Beachtung finden sollte, ist die Kritik an den Folgen instrumenteller Vernunft, was bei Habermas immer auch mit Bürokratiekritik zu tun hat:

Wenn in der Stadtplanung die Steuerungsmechanismen des Marktes und der Verwaltungen so funktionieren, dass sie für die Lebenswelt der Betroffenen dysfunktionale Folgen haben – und den „Funktionalismus“, der einmal gemeint war, durchkreuzen -, dann ist es nur konsequent, die willensbildende Kommunikation der Beteiligten mit den Medien Geld und Macht in Konkurrenz treten zu lassen.

Sprich: Modernekritik kann keine rein formale, ästhetische sein. Aus der inhaltlichen Kritik muss sich die andere, die kritische Form entwickeln.

„In dieser Opposition zur Moderne steckt ein gutes Stück Wahrheit“, schreibt Habermas am Ende seines Aufsatzes, und er lässt bewusst offen, wie Architektur künftig aussehen könnte. Nur was man nicht vergessen sollte, ist für ihn klar:

„In der modernen Architektur hat sich, in einem glücklichen Augenblick, der ästhetische Eigensinn des Konstruktivismus mit der Zweckgebundenheit eines strengen Funktionalismus getroffen und zwanglos verbunden.“

In der heutigen reakionären Zeit, in der sich die ästhetische Regression mit den zerstörenden Kräften des Kapitals verbunden hat, tut solch eine Perspektive gut.

Zusammenfassung: Die Moderne war eine Antwort auf den Historismus als extremem ästhetischem Phänomen. Diese Moderne geriet unter die Fuchtel des Kapitals und nahm massiven Schaden. Darauf mit einem Rückschritt ins Historistische zu antworten, hieße nur, aus der Geschichte nichts gelernt zu haben. Dass in dieser reaktionären Gemengelage ein paar Jahre später das „Ende der Geschichte“ ausgerufen werden konnte, passt nur zu gut ins Bild.

Aber das ist eine andere Geschichte.

(Fotos: wikipedia und genova 2019)

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Eine Antwort zu Habermas – moderne und postmoderne Architektur

  1. stadtauge schreibt:

    Interessanter Text. Und auch gutes Bild zum Schluss. Keine Ahnung ob und wo es rauf und runter geht. LG Daniel

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