Demokratie und Bürokratie

Wir leben nicht in einer Demokratie. Wir leben in einer Bürokratie. Wer das anders sieht, glaubt auch, dass es zur Vollkommenheit einer Demokratie ausreicht, alle vier Jahre ein Kreuzchen zu machen. Oder jährlich 5.000 Demonstrationen anzumelden, wie das allein in Berlin geschieht. Dieses Jahr werden es voraussichtlich sogar 7.000 sein.

Nein, wir leben nicht in einer Demokratie. Wir leben in der verwalteten Welt, in einer deutschen Bürokratie, die naturgemäß die schlimmste Bürokratie der Welt ist. Es ist auch völlig lächerlich, wenn die üblichen Parteien sich als demokratische bezeichnen, um sich von der AfD abzugrenzen.

Ämter, Behörden, Institutionen, Konzerne: Ihnen ist gemeinsam, dass sie sich nach und nach verselbstständigen. Dieser Prozess läuft in einem Obrigkeitsstaat wie Deutschland  leichter ab, aber prinzipiell ist das überall gleich: Je länger eine Institution besteht, desto massiver breitet sich dort eine Haltung aus, die nicht mehr das eigentliche Anliegen im Sinn hat, sondern allein die bürokratisch korrekte Ausführung. Ob diese Ausführung dem eigentlichen Ziel nahekommt, ist egal. Es geht um Planzahlen, um Exceltabellen, um Listen und Fristen. Sämtliche Beteiligten im bürokratischen Apparat arbeiten nach und nach nach diesem Prinzip der bürokratischen Maßgabe.

Man kann auch davon ausgehen, dass die Stromlinienförmigsten nach oben kommen. Es kommen die an die entscheidenden Schaltstellen der Macht, die willig sind, die bürokratischen Regeln und Absurditäten weiterzuführen, sie vielleicht gar in ihrer Intensität noch zu steigern.

Es ist also eine Frage der Zeit. Institutionen, Ämter, Behörden müssten nach einer bestimmten Frist komplett neu geordnet werden. Vielleicht in Form einer Unternehmensberatung, die unabhängig arbeitet.

So eine Art permanente Revolution.

Meiner Beobachtung nach ist diese Frist in Deutschland schon seit Jahrzehnten abgelaufen. Versuche einer Verbesserung der Situation sind reine Kosmetik und können auch gar nichts anderes sein, denn sämtliche Effekte in diesen Institutionen sind so angelegt, dass sie nur kosmetische sein können. Das Argument interessiert nie als inhaltliches, nur als formales. Finanzämter sind ein beliebtes Beispiel für ganz und gar und völlig absurde Bürokratie, aber sie sind nur die Spitze des Eisbergs. Man muss sich nur einmal überlegen, wie oft man im Internet bei den AGS´s ein Häkchen setzt, ohne sie verstanden zu haben. Man kann sie nicht verstehen.

In den aktuellen Gesellschaftstheorien (Luhmann, Latour, Bourdieu) handeln keine Menschen mehr, schrieb kürzlich Ernst-Wilhelm Händler in der FAZ (26.6., S. 13). Es stelle sich die Frage, was eigentlich handle. Händler glaubt, das sei die Kategorie „Agency“, also einfach eine Handlungsfähigkeit. Dabei sei auf die Zielvorstellungen zu achten. Offenbar sind die Menschen in den Theorien schon lange entsorgt worden. Nun stellt man das auch praktisch fest.

Bürokratisierung bedeutet, über sprachliche Formalien und sprachliche Zermürbung und über die permanente, aber kaum erkennbare Lüge allumfassende Macht erringen und um jeden Preis halten. Es ist eine Sprache, die nicht mehr der Kommunikation dient, sondern der juristischen Absicherung und der Verschleierung. Es sind Menschen, die in ihrem Berufsleben dahin getrimmt wurden, keine Probleme zu lösen, sondern Machtinteressen zu vertreten. Für deren Vertretung werden sie offiziell nicht bezahlt.

Wahrscheinlich ist auch hier der Neoliberalismus die Wurzel des Übels. Er ist schon im Ansatz auf Lüge ausgelegt: Also darauf, den einzigen Grund seiner Existenz, nämlich die Profitmaximierung (auf Kosten der Masse) durch Verschleierung dieses Zieles zu erreichen. Die Verschleierung der Profitmaximierung ist die Urlüge des Neoliberalismus und darauf kann man beliebig viele Lügen aufbauen. Beispielsweise die Behauptung, dass Kommunikation der Verständigung dient.

In der verwalteten Welt sind daraus längst Repressionsmechanismen geworden. Keine Mail, die ohne Prüfung eines Juristen rausgeht. Kein Satz, der nicht noch umständlicher formuliert werden könnte. Keine Formulierung, die nicht exakt den wesentlichen Aspekt vernebelt. Lüge allerorten.

Was damit zusammenhängt: Vor runden 15 Jahren gab es die Meldung, dass es in Deutschland nun mehr PR- als richtige Journalisten gebe. Dass also mehr Leute hauptberuflich mit dem Stift in der Hand verschleiern als zumindest den Versuch der Aufklärung unternehmen.

Bürokratie bedeutet Entfremdung. Vielleicht könnte man auch Krawalle wie die in Stuttgart und Frankfurt in diesen Zusammenhängen sehen. Die, die nichts zu verlieren haben, wideretzen sich der Perversion in authentischer, ursprünglicher Art.

Diese Zeilen sind nur der Versuch einer Annäherung an das größte Problem derzeit. Wer heute die Demokratie in Deutschland lobt, ist ihr schlimmster Feind.

(Foto: genova 2012)

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9 Antworten zu Demokratie und Bürokratie

  1. Jakobiner schreibt:

    Mit der Kommunikation-das ist richtig beobachtet.Man redet ja auch von Juristen-und Behördendeutsch,zu dessen Verständlichkeit man einen Dolmetscher oder Anwalt mit Stundensatz von 350 Euro braucht.Würde mich zudem mal interessieren,wie Gebärdendolmetscher Behördendeutsch darstellen.

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  2. genova68 schreibt:

    Haha, ich vermute, dass es Behördendeutsch in der Dolmetschersprache nicht gibt. Man braucht also einen Dolmetscher, der Behördendeutsch versteht und es erst einmal in Normalodeutsch übersetzt.

    Tja, entweder sagt Luhmann etwas Sinnvolles zum Thema oder Adorno et al hat mit der „verwalteten Welt“ schon alles dazu gesagt.

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  3. Jakobiner schreibt:

    Dolmetscher und dann Gebördendolmetscher-das wären dann 700 Euro Stundensatz-spätestens hier würde Behördendeutsch für Taubstumme wieder zur sozialen Frage.Das ist der doppelte Hartz4satz für eine Stunde

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  4. Jakobiner schreibt:

    Neoliberalismus bedeutet aber lean state,schlanker Staat,Petsonaleinsparung in der Verwaltung-bis diese so abgemagert und unterbesetzt ist,dass sie schon nicht mehr funktionsfähig ist.Da wäre es doch gut,mehr verwaltete Welt zu haben,da man ansonsten Gefahr läuft bei Oliver Janich,CATO,Rand Paul,Ayn Rand und den Libertären zu landen.Und das rechte,neoliberale Gerede von der Bürokratie,meint ja zumeist auch staatliche Kontrolle bei Mindestlohn,Steuereintreibung,Hygiene,Umwelt-und Arbeitsschutzgesetzen,Frauenrechten,also Auflagen,die der Gewinnmaximierung des Kapitals ein paar Schranken auferlegen.Wir haben deutlich zu wenig Kontrolleure,sogleich dies aber auch an der Gesetzgebung liegt was aber nicht gegen eine gewisse Rotation und „permanente Revolution“im Sinne eines Smart State und effizienter Verwaltung spricht.

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  5. genova68 schreibt:

    Ja, der Staat muss natürlich in der Lage sein, Steuern einzutreiben etc. Verwaltete Welt ist aber hier der falsche Ausdruck, da es in dieser (nach Adorno) nur um bürokratische Funktionen geht. Ich meine, dass eine lebendige Demokratie von der verwalteten Welt desavouiert und torpediert und schlussendlich zur Strecke gebracht wird. Eine Thema wie die Gentrifizierung ist einerseits nicht zu bewältigen, weil der politische Wille fehlt. Andererseits haben wir heute ein Dickicht, einen Dschungel an Vorschriften und Umsetzungsgeboten, dass sich jeder Bürokrat daran aufhängen kann und alles bleibt, wie es ist. Die Struktur ist so dicht, dass es kein Entrinnen gibt.

    Von Liberalen könnte man vielleicht lernen, lockerer zu werden. Eigentlich bräuchte jede Verwaltung eine Unternehmensberatung, die alle paar Jahre vorbeikommt und entschlackt.

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  6. Jakobiner schreibt:

    Naja,das ist ja gängige Praxis,dass sich Minister externe Berater oder Firmen wie Mc Kinsey holen,um ihre Verwaltung effizienter und schlanker zu machen-siehe Bundeswehr,Lebensmittelkontrolle oder BaFin.Die Resultate sieht man ja.Ganz locker.

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  7. genova68 schreibt:

    Die gängigen Unternehmensberatungen sind vielleicht nicht das, was man braucht. Aber eben der Blick von außen wäre wichtig. Quasi wie eine Therapie. Es wäre eine Art permanente Erneuerung, die von innen nicht funktioniert.

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  8. Jakobiner schreibt:

    Diese permanente Erneuerung hatte man ja auch während der Kulturrevolution Maos,die von den 68ern so als Jugendrevolte gegen die revisionistischen Apperatisck,Bürokraten und Reaktionäre gefeiert wurde.

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  9. genova68 schreibt:

    Ich würde schätzen, dass die permanente Revolution von Mao etc. nichts mit dem zu tun hat, was eine selbstreflexive Erneuerung meint. Leben und Gesellschaft ist immer dynamisch, niemals statisch, insofern ist das eine Binse. Aber jede Bürokratie hat die Tendenz, sich selbst zu verfestigen und zu verabsolutieren. Die Dynamik ist also auch in einer totalitären Bürokratie vorhanden. Es geht darum, diese Dynamik positiv zu steuern, und das bedeutet Selbstreflexivität, Kompetenz von außen, rigorose Machtbeschneidung, rationale Kommunikation.

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