Barbara Borchardt: Vom Grundgesetz und seinen Feinden

Ich zeige nun ein schönes Beispiel dafür, wie eine rechte, kapitalistische, antidemokratische Lesart des Grundgesetzes mittlerweile als Mainstream durchgeht und die ernsthafte Verteidigung des GG als „linksextrem“ diffamiert wird.

Die mecklenburgischvorpommerische Landespolitikerin der Linkspartei, Barbara Borchardt, ist nun – mit den Stimmen der CDU – zum Mitglied des Landesverfassungsgericht gewählt worden. Annegret Kramp-Karrenbauer kritisierte die Wahl und behauptete, sie schade dem Ansehen des Verfassungsgerichts.

Wo ist der Stein des Anstoßes? Linkspartei geht vermutlich generell nicht, Staatsfeinde; Borchardt im besonderen nicht, weil sie Mitglied der Antikapitalistischen Linken (AKL) ist, die vom Verfassungsschutz als linksextrem eingestuft wird.

Die kleine Affäre ist ein schönes Beispiel dafür, wie sich die politischen Gewichte verlagert haben. Das GG wurde in dem Bewusstsein konzipiert, dass die kapitalistische Logik Kriege hervorruft. Aus gutem Grund wird dort jeder Bezug auf den Kapitalismus und das kapitalistische Wirtschaften vermieden. Nicht ohne Grund schreibt das GG kein Wirtschaftssystem vor – Sozialismus wäre kein Problem – und aus gutem Grund steht dort der Enteignungsartikel.

Die Antikapitalistische Linke nimmt das GG Ernst, gewollt oder ungewollt. Sie fordert „Bruch mit den kapitalistischen Eigentumsstrukturen“. Das fordert jeder halbwegs vernünftige Mensch, also kaum ein Deutscher. Aber das ist nicht der AKL anzulasten. Kapitalistische Eigentumsstrukturen aufbrechen ist aus Sicht der Herrschenden verfassungsfeindlich. Nicht die AKL, sondern die FDP will das GG schleifen, konkret: den Enteignungsartikel abschaffen.

Wer ist nochmal grundgesetzfeindlich?

Karrenbauer schadet dem Ansehen des Verfassungsgerichts, wenn sie alle, die sich nicht vorbehaltlos zur kapitalistischen Ausbeutung bekennen, als Verfassungsfeinde brandmarkt.

Borchardt in der Süddeutschen auf die Frage nach ihrer Verfassungstreue:

Es steht auch im Artikel 14 des Grundgesetzes, dass Eigentum verpflichtet, sein Gebrauch soll der Allgemeinheit dienen. Und es ist nicht verboten, darüber nachzudenken, dass öffentliche Daseinsversorgung nicht in private Hand gehört, sondern in öffentliche Hand. Das wäre ja schon ein Systemwechsel. Warum muss mit Wohnen Geld verdient werden? Oder wenn man die Corona-Krise in Bezug auf das Gesundheitssystem und die Privatisierung der Krankenhäuser betrachtet. Gesundheit und Wohnen sind doch keine Ware.

Diese Frau sagt lauter vernünftige Sachen und gilt als Verfassungsfeindin. Das sagt einiges über die Protagonisten des Systems aus.

Wobei auch eine Verfassung nur eine Verfassung ist. Natürlich sollte man sie kritisieren und ändern dürfen. Wer den Enteignungsartikel weghaben will, soll es probieren ohne denunziert zu werden. Das gilt auch für die FDP, die naturgemäß eine antidemokratische Partei ist, wenn man sich ihr Wirtschaftsprogramm anschaut. Dann aber bräuchte man eine ernstzunehmende öffentliche Diskussion und vielleicht auch eine Talkshowmasterin mit ein wenig mehr Ahnung als Anne Will, um die Folgen zu debattieren. Auch antidemokratische Parteien wie die FDP oder die AfD haben ihre Berechtigung. Der Mensch ist nicht nur gut.

Die öffentlichen Kommentare zu Borchardt verwundern mich ein wenig. Es scheint, als lebten wir in den 1960er Jahren. Norbert Röttgen findet laut Welt, Borchardt selbst sei „ein Fall für den Verfassungsschutz“. Der unsägliche Hubertus Knabe, selbst wegen vermeintlicher Nähe zur AfD als Leiter der Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen entlassen, bekommt in der neuen Lieblingszeitung der Rechten, der NZZ, Angst, weil Borchardt

die Enteignung aller Banken, Versicherungen und «strukturbestimmenden Konzerne der Weltwirtschaft»

fordere. Knabes Unkenntnis des GG demonstriert er zwei Sätze weiter. Er glaubt, dass

nach Artikel 14 Absatz 1 des Grundgesetzes das Eigentum in Deutschland «gewährleistet» wird – was eine Abschaffung des Kapitalismus ausschliesst.

Man muss kein Verfassungsrechtler sein, um die Blödheit dieses Arguments zu erkennen. Nicht zu blöd allerdings, um nicht in der NZZ propagiert zu werden.

Zwei weitere Sätze später nennt Knabe Frau Borchardt eine

„bekennende Linksextremistin.“

Vermutlich könnte Borchardt sich dagegen juristisch wehren. Aber was stört es die Eiche.

Vielleicht müsste man den Spieß umdrehen: Verfassungsfeind ist jeder, der den Kapitalismus nicht abschaffen will.

Ulf Poschardt meldete sich, natürlich auch zu Wort. Er tut es immer, wenn es um die Themen „Porsche auf der Autobahn“ oder „Linksextremismus“ geht. Seiner Meinung nach hat die Linkspartei ein „Extremismusproblem.“ Danke für den Hinweis.

Der smarte Markus Blume von der CSU twitterte:

„Wer Verfassungsfeind ist, kann kein Hüter der Verfassung sein.“

Ein kleiner Google-Rundgang durch die Nachrichten zu Barbara Borchardt zeigt, wie durch und durch miserabel das intellektuelle Niveau in Deutschland gelagert ist. Kürzlich sagte ein CDU-Politiker im Bundestag, die Wirtschaftspolitik der Linkspartei laufe auf „Nordkorea“ oderr „Venezuela“ hinaus. Auch dieses menschliche Wesen gehört zur angeblichen Elite dieses Landes.

Dass die FDP wirtschaftspolitisch grundgesetzkonform ist, wäre zu bezweifeln. Die CDU hatte Ende der 1940er Jahre bekanntlich ein Programm, dass sie heute selbst als grundgesetzfeindlich bezeichnen würde. Müsste man nicht sämtliche von der CDU respektive der FDP vorgeschlagenen Richter in den sofortigen Ruhestand versetzen? Gefährden sie nicht die Verfassung? Verfassungsfeinde als  Verfassungsrichter? Man kann eine scheinheilige Diskussion drehen und wenden, wie man will.

Solange allerdings verfassungsfeindliche Kräfte wie die CDU andere Menschen als angeblich verfassungsfeindlich denunzieren, sollte man diese Karte in der Hinterhand behalten.

Noch etwas muss man bei Borchardt loben: Ihr ehrlicher Umgang mit der Mauer. Sie bezeichnete den Mauerbau 2011 als

für die Führungen der Sowjetunion und der DDR alternativlos

Danach kritisierte sie die humanen Folgen der Mauer.

Sowas sagt man in Deutschland besser nicht. Zum Glaubensbekenntnis gehört hierzulande, dass man beim Stichwort „Mauer“ feuchte Augen bekommt. Aber natürlich hat sie recht: Die Mauer war für die Führungen alternativlos. Und dass sie gebaut wurde, lag an der Politik der tollen Deutschen zwischen 33 und 45. Insofern ist das Rumgehacke auf Borchardt auch der typisch deutsche Versuch einer Selbstentlastung.

Als nächstes bitte Borchardt for Bundeskanzler.

Danke im Voraus.

(Foto: genova 2020)

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2 Antworten zu Barbara Borchardt: Vom Grundgesetz und seinen Feinden

  1. altautonomer schreibt:

    Hab den Medienrummel um diese Person auch verfolgt und möchte dazu folgendes Anmerken:
    1. Das Grundgesetz ist die Urquelle aller Gesetze, Rechtsverordnungen, Verwaltungsverordnungen und Satzungen, die unser Leben regeln. Mithin die Basis unserer gesellschaftlichen Verhältnisse. Insofern kann ich nur ein Verfassungsfeind sein., da ich diese gesellschaftlich normierten Zustände ablehne.

    2. Nach Erkenntnissen des staatlich geförderten Forschungsprojekts des Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF) und der Stiftung Berliner Mauer gab es mindestens 140 Maueropfer, darunter 101 DDR-Flüchtlinge.

    Allein zwischen 1990 und 2020 hat die Kampagne „Death in Custody“ bislang 159 Fälle in der BRD recherchiert (Stand Juni 2020), die die Todesfälle durch Polizeischüsse, durch unterlassene Hilfeleistungen und Todesfälle in Gewahrsam, die von den Behörden als „Suizid“ angegeben werden, umfassen.
    https://deathincustody.noblogs.org/

    3. Würde man den Grundrechtekanon der Verfassung anhand der Realität zu verifizieren versuchen, stieße man stets an seine Grenzen. Freie Meinungsäußerun? Versammlungsfeiheit? Rechts auf Freizügigkeit? Allgemiener Gleichheitsgrundsatz (Lachnummer)? Menschenwürde (wurde vor kurzem noch von Schäuble und Boris Palmer zur Disposition gestellt)? Asylrecht (Entkernt)? Berufsfreiheit (zumutbare Arbeit nach Hartz4) usw. usw.

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  2. genova68 schreibt:

    Man kann das GG als die Basis unserer gesellschaftlichen Verhältnisse bezeichnen, aber eine Basis bestimmt nur sehr ungenau das, was obendrauf kommt. Bei einem Haus bestimmt die Basis ziemlich wenig, bestenfalls die Statik. Wie das Haus dann aussieht, hat mit der Basis nicht viel zu tun. Polizeigewalt beispielsweise wird geahndet oder nicht, aber wenn nicht, dann kannst du nicht das GG verantwortlich machen. Bzw. wenn, dann müsstest du belegen, welcher Artikel die Ahndung verunmöglicht.

    Das GG ist Auslegungssache und sowas wie Art. 1 sowieso.

    Freie Meinungsäußerung? Jeder Depp kann im Internet schreiben, was er will. Ich, zum Beispiel. Versammlungsfreiheit? Ist gegeben, oder? Menschenwürde? Palmer brachte einen Diskussionsbeitrag. Willst du, dass er dafür bestraft wird? Juristisch? Das Asylrecht wurde mit einer Zweidrittelmehrheit in den 90ern geändert, so ist das nun mal in einer parlamentarischen Demokratie. Ich vermute, dass es da auch in der Bevölkerung eine breite Mehrheit gab.

    Das GG ist nicht heilig. In Bezug auf die Verwertung von Boden beispielsweise hat es massive Mängel. Man müsste Privatbesitz am Boden generell abschaffen, aber das würde ich nicht den Verfassern des GG anlasten, sondern dem aktuellen politischen Betrieb, der eben lieber das Asylrecht entkernt und nicht die Verfügung über den Boden regelt. Das sind nun mal die gesellschaftlichen Verhältnisse.

    Dass offenbar mit dem GG es möglich war, jahrelang Menschen für drei oder vier Euro die Stunde zu beschäftigen, ist auch ein Problem. Vielleicht wäre dem mit der Menschenwürde zu begegnen gewesen, aber das GG ist nun mal Auslegungssache, so wie jedes Gesetz. Und da waren offenbar die Machtverhältnisse so, dass die herrschende Klasse sich da GGkonform durchsetzen konnte.

    Gleiches gilt für die massiven Spreizungen bei Einkommen und Vermögen.

    Der Mietendeckel in Berlin wird ein weiteres Beispiel bringen. Wird er juristisch zu Fall gebracht, müssten man das GG irgendwo erweitern. Aber das wäre eben auch wiederum den aktuellen Politikern anzulasten. Da liegt meines Erachtens das Problem, weniger beim GG.

    Meine Theorie wäre also eher, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Bundesrepublik massiv hin zur kapitalistischen Verwertbarkeit verschoben haben, da war das GG vielleicht wirklich eher blind. Aber wären die politischen Mehrheiten heute andere, würde das GG massiven Veränderungen nur begrenzt im Wege stehen.

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