Vom Vorzug des Nestbeschmutzens

Ein interessantes Interview in der Süddeutschen (26.7.) mit einer deutsch-türkischen Bloggerin (Weltbewohner), die den lustigen Vornamen Tuba und den Nachnamen Sarica trägt. Sie hat ein Buch geschrieben (Ihr Scheinheiligen. Doppelmoral und falsche Toleranz. Die Parallelwelt der Deutschtürken und die Deutschen).

Sie sagt:

 (über Özil:) … Alles sei nicht politisch gemeint. Dabei weiß er genau, dass Erdogan tausende Journalisten Gewerkschafter, Lehrer, ja, alle, die es wagen, ihn offen zu kritisieren,ins Gefängnis werfen lässt. Özil gibt da den schweigenden Mitläufer. Und stilisiert sich zum Opfer. Schon vor Jahren habe ich geschrieben, dass Özil nicht zum Posterboy der Integration taugt […]

Meiner Meinung nach unterdrücken sich die meisten muslimischen Frauen vor allem selbst. In der Parallelgesellschaft werden Frauen dazu erzogen, Männer toll zu finden, die ihnen sagen, wie sie sich anzuziehen oder zu benehmen haben. Ein junges Mädchen macht sich da besonders beliebt, wenn es Kopftuch trägt. Alles Persönliche wird der Familie beziehungsweise dem Familienoberhaupt untergeordnet. Meine eigene Schwester etwa hat sich aus freien Stücken für einen erzkonservativen Mann entschieden. Jetzt darf sie ohne seine Erlaubnis nicht einmal ihre eigene Mutter besuchen […]

Jedes Mal, wenn ein sogenannter deutschtürkischer Experte in einer deutschen Talkshow auftragt, war ich enttäuscht: Warum versteckt er sich hinter dem Opfermythos? Warum spricht er nicht die wirklichen Probleme der Parallelgesellschaft an? Da war eine Lücke, die ich füllen möchte […]

Die modernen Muslime, die behaupten, sie seien intergriert, stehen unter starkem Zwang, es den Religiösen recht zu machen. Ich habe das an meiner eigenen, eher fortschrittlich gesinnten Familie gesehen. Sobald die religiöseren und verschleierten Verwandten zu Besuch kamen, wurden oft frauenfeindliche und deutschfeindliche Ansichten geäußert. Ich wollte immer dagegen aufstehen. Aber meine Mutter bat mich, mir den Widerspruch zu verkneifen. Es gibt da eine weitverbreitete Ablehnung der liberalen Demokratie und ihrer Diskussionskultur – aber sie wird als „Loyalität“ verklärt […]

Bei einem Praktikum in der Türkei merkte ich, wie viel weltoffener viele der Türken dort denken […]

Nein, der Islam ist nicht mein Feindbild. Es geht mir vielmehr um die Menschen, die Religion instrumentalisieren, um anderen ihre Freiheit zu nehmen.

Was auch immer man von den einzelnen Aussagen halten mag; es ist nicht meine Aufgabe, das zu kommentieren, ich bin da nicht im Thema. Anders gesagt: Ich bin kein Deutschtürke. Ich finde es aber ungemein wichtig, dass es Kritik innerhalb der Community gibt. Ansonsten haben wir das immergleiche Spiel (Talkshow genannt) mit drei Beteiligten: Es taucht in der deutschen Mehrheitsgesellschaft ein Mitglied der türkischen Community auf, der diese verteidigt und irgendwas an der Mehrheitsgesellschaft kritisiert. Ständig geht es dabei um den Islam, der vor allem als Blaupause für Beschuldigungen und Entschuldigungen dient. Beteiligter Nummer zwei ist ein Deutscher, der dem Türken zustimmt und Nummer drei ist ein Deutscher, der den Deutschtürken kritisiert. Ein ermüdendes Spiel. Die Kritik von innen heraus ist wissender, beteiligter, erhellender.

So wie es für jeden Deutschen eine Selbstverständlichkeit sein sollte, dieses Land zu kritisieren, so sollte es für jeden Deutschtürken eine Selbstverständlichkeit sein, die Deutschtürken zu kritisieren. Nur so demaskiert man auch die Unterdrücker und Spießer. Nur so geht es voran. Wenn es gut läuft, dialektisch.

Nestbeschmutzer: die vermutlich schätzenswerteste Kategorie überhaupt.

(Foto: genova 2018)

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14 Antworten zu Vom Vorzug des Nestbeschmutzens

  1. Anonymos schreibt:

    Ich bin da genau auf deiner Seite. Was du schreibst spricht mir aus der Seele.

    Ich habe ja vom Islam eher ein abtoßendes Bild und das obwohl ich offen gegen allem bin.

    Mach weiter so du bist super.

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  2. hANNES wURST schreibt:

    Wobei dem Plädoyer der Nestbeschmutzer wieder andere Aspekte fehlen. Hier zum Beispiel, was dazu führt, dass gerade die Deutschtürken an konservativen Idealen festhalten. Hier ist dann wieder der deutsche Nestbeschmutzer (also ich) vonnöten, um auf den Werteverfall in Deutschland hinzuweisen – die in Konsum und Kommerz untergehende Kultur.

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  3. neumondschein schreibt:

    In Deutschland gibt es eben zu viele häßliche Deutsche. Oder noch drastischer: Der Deutsche an und für sich ist häßlich. Deutschland ist häßlich. Nicht nur mißhandelt dessen Regierung Griechen und Italiener auf europäischer Ebene. Sondern alle Völker leiden unter dem Narzissmus Deutschlands, unter dem Selbstbild Deutschlands, die tadelloseste Nation der Welt zu sein, die freieste, rechtschaffenste, tüchstigste Nation der Welt zu sein, und deshalb den Rest der Welt verachten und maßregeln zu können. Deshalb leiden ganz besonders Deutsche ja auch so unter den Kopftüchern, die sie selbst nicht tragen müssen. Finden aber trotzdem das, was Don Alphonso über gelungene Lebensgestaltung schreibt, ganz vernünftig: Familien mit zwei Kindern und der Frau zu Hause, die jeden Nachmittag wartet, daß der Alte von der Arbeit wieder nach Hause kommt. Und wißt ihr was: Das ist auch vernünftig! Unter den gegebenen gesellschaftlichen Umständen. Alleinerziehende Mutter zu sein, ist in unserer Gesellschaft eine riskante und freudlose Alternative. Besser hätten die betroffenen Frauen es im Patriarchat. In ihm hätten Väter nämlich weniger Freiheiten als Pflichten. Gerade unter gesellschaftlichen Verhältnissen, wo sich der Staat aus der Verantwortung zieht und seine Aufgaben wie Altenpflege, Kindererziehung etc. der Privatsphäre überläßt, besinnen sich die Menschen auf private Sicherungssysteme: auf Familie, auf religieus strukturierte Gemeinschaften, die erwarten, daß persönliches Streben sich gemeinschaftlichen Zwängen unterordnet, um ihre Mitglieder zu schützen und zu versorgen. Dieselbe Logik, die für ihn selbst in Ordnung geht, duldet der häßliche Deutsche jedoch ausgerechnet nicht bei Menschen nicht, die noch weit weniger Boden unter den Füßen haben, noch schwierigeren Zugang zu gesellschaftlichen Resourcen haben, wie er: Zigeunern, Migranten, Türken und sonstigen Untermenschen. Das, was man in einem deutschen Familienunternehmen als Tugend ansehen würde, wäre am Dönergrill Unterdrückung, Zwang.

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  4. Jakobiner schreibt:

    So richtig es ist, dass ein Nestbeschmutzer der eigenen Community mehr Wirkkraft hat als ein sozusagen Außenstehender, möchte ich Genovas Paradigma, dass man sich nur zu Sachen äußern darf, wenn man selbst betroffen oder Mitglied einer Community ist widersprechen. Demnach dürften nur Arbeitslose über Arbeitslosiigkeit sprechen, nur Behinderte über Behinderung, nur Unternehmer über Wirtschaft, nur Autofahrer über Autos, etc. Sehr dogmatisch. Denn die deutsch-türkische Community und ihre Verhalten hat auch Auswirkungen auf die deutsche Community, z.B. in Form des Erstarken der AfD. Sich hier einen Maulkorb zu verhängen zu Themen wie Islam, islamismus oder gar der üblichen linken Islamophilie zu fröhnen, stärkt die Rechte nur.

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  5. genova68 schreibt:

    Man darf alles. Es ist nichts verboten. Zumindest nach unten hin sollte man besser zuhören.

    P.S.: Es möge sich jeder überlegen, wie oft er schon über Deutsch-Türken und ihre angeblichen Versäumnisse und Probleme geredet hat und im Vergleich dazu wie oft mit ihnen. Er dürfte eindeutig ausfallen. Man sollte sich also ab sofort das Gerede über andere sparen. Es ist nämlich alles gesagt.

    Ich muss in diesem Zusammenhang Jens Berger von den nachdenkseiten loben. Er schrieb vor ein paar Tagen über Afrika und Migration:

    Diese Debatte sollte jedoch nicht um unsere “Angst vor dem schwarzen Mann”, sondern um Afrika, um Afrikas Perspektiven, um Afrikas Chancen gehen und daher auch nicht von alten, weißen Männern und Frauen, sondern von den Betroffenen geführt werden. Aber wann haben Sie zuletzt einen afrikanischen Intellektuellen, Ökonomen, Soziologen oder Migrationsforscher in dieser Debatte gehört? Noch nie? Da sind sie nicht allein. Fangen wir also doch erst einmal an, den Betroffenen zuzuhören und setzen dann alle Mittel in Bewegung, um Afrika zu retten.

    Brennpunkt Afrika – Auch wenn die Debatte unbequem ist, müssen wir sie endlich führen

    Das ist ein Aspekt, der immer zu kurz kommt, was uns interessanterweise nicht mal auffällt, denn bei diesen Debatten, ob über Deutschtürken oder über Afrika, geht es doch letztlich immer um uns: Alte weiße Männer mit Schwabbelbäuchen. Vermutlich wollen wir nur von unseren Bäuchen ablenken.

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  6. GrooveX schreibt:

    es ist immer wieder erstaunlich, auf wen und was man hereinfallen kann. jedenfalls habe ich mich gerade noch eingekriegt, ohne zur 3. strophe aufzustehen und mitzusingen. trotzdem bin ich frau sarica für die munteren und aufrichtigen wörter dankbar, die sie verwendete, deutschland als wunderbares land zu beschreiben, in dem man einfach mal seine schangse wahrnehmen kann – man muss nur wollen.

    zur nestbeschmutzung taugt das nicht. das ist der finale kotau vor den neuen herren, sach ich mal.

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  7. genova68 schreibt:

    tja, so gehen die Geschmäcker auseinander. Ich halte auch einiges von dem, was sie in ihrem Blog schreibt, für daneben, aber das ist egal, und das ist der Punkt. Die soll sich äußern, das ist wichtig, und alles andere ist Dialektik, wenn es gut läuft.

    Wer ist denn auf wen und was hereingefallen?

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  8. GrooveX schreibt:

    alle, von der süddeutschen über die faz, einen guten bekannten letzten freitag und hier, einfach alle. nein, es gibt eine ausnahme, stefan gärtner. das zum wer. auf wen? das ist klar. es ging um eine überangepasste deutsche (‚mit migrationshintergrund‘). auf was? nun, da warf irgendwer irgendwo das wort nestbeschmutzung auf den markt, und alle rissen sich drum (also auf das schlagwort).

    spannend finde ich, dass es nester gibt, die man beschmutzen darf, ja sollte, bei deren beschmutzung alle applaudieren, und dann die anderen, die, denen man gerne angehören möchte und wofür man alles tut – twitter, twitter, twit und twihitter, twitter, twitter, twihihi twitt.

    ‚die soll sich äußern, das ist wichtig…‘ das klingt hoch dramatisch. ich kenne frauen, die haben sich viel drastischer geäußert, allerdings vor zeiten und nicht zu fußballstars und deren macken – obwohl…

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  9. genova68 schreibt:

    Naja, ist das nicht ein bisschen überzogen? Sie teilt deine Meinung nicht, also ist sie eine überangepasste Deutsche. Und warum sind alle darauf reingefallen? Sie berichten von einem Buch einer Frau mit einer Botschaft, die man hier eher selten hört.

    Du lebst manchmal dieses skurrile Konkret-Ding, das ist mir sympathisch, als Denkanregung, aber es ist ziemlich angreifbar. Eine Migrationsdeutsche nimmst du also nur ernst, wenn sie sich nicht so äußert wie die Tubafrau.

    Zum Nestbeschmutzen: Ich plädiere ja für umfassende Beschmutzung aller Nester, am besten von denen, die drin sitzen.

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  10. GrooveX schreibt:

    da fehlt mir ein kleines auch am anfang: auch eine migrationsdeutsche nehme ich nur ernst…
    ich unterscheide nicht die german natives vom rest der welt, wenn es darum geht, ernst genommen werden zu wollen. so weit kommt’s noch! nee, niemals!

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  11. genova68 schreibt:

    Aber die unterscheiden ja. Das sollte man nicht unterschlagen.

    Davon abgesehen: Ich habe immer weniger eine Meinung, ist mir kürzlich aufgefallen. Vielleicht ist es so, wie du sagst. Bis auf Gentrifzierung sehe ich immer mehr beide Seiten. Ich sollte Bundespräsident oder Gott werden.

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  12. Jakobiner schreibt:

    An allem ist der weiße,ältere Heteromann mit Bierbauch schuld. Was für ein Welt- und Feindbild. Geradezu selbst rassistisch. Vielleicht liegt es auch mehr an Leuten, die immer weniger eine Meinung haben, zu allem was kommentieren wollen ohne irgendwie Posiztion zu beziehen.

    Offtopic: Wie die Rechte Pippi Langstrumpf interpretiert:

    https://www.sueddeutsche.de/kultur/literatur-und-politik-ich-mach-mir-die-pippi-widdewidde-wie-sie-mir-gefaellt-1.4074997

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  13. GrooveX schreibt:

    ach gottchen,
    sie hat das der-herr-karl-syndrom.

    das war’s aber jetzt von mir zum themenkomplex prämanische vibrationen im deutschsprachigen blogdingens, ehrlich!

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  14. Jakobiner schreibt:

    Sahra Wagenknecht hat jetzt ihre neue Bewegung „Auftsehen“initiert, richtig aber startet sie erst ab dem 4. September. Bisher ist noch alles ohne Programm, unverbindlich, man/frau weiß noch nicht, was das überhaupt werden soll. Bewegungen können in Deutschland anders als in Frankreich nicht gewählt werden. Fraglich, was das Ganze ohne die Gründung einer Partei eigentlich werden soll.Zudem dürfte Aufstehen auch das übliche linke Programm mit Ausnahme der No border-Forderungen der Linken sein, also auch nichts so Neues.Folgender Artikel weist dabei auch auf das Schicksal der letzten erhofften Erlösungsbewegung Diem25 hin, die auch sang- und klanglos versandet ist. Auftstehen klingt so nach Wecker und Weckruf. Gut möglich, aber dass der deutsche linke MIchel da den Weckruf als Störung seines behäbigen Tiefschlafes registriert, sich im Bett umdreht und weiterschläft. Zudem ist auch folgendes wahrscheinlich:

    „Auch „Aufstehen” wird in Selbstlob, Programmdiskussionen und utopischen Spinnereien versinken. “

    Ich habe mich jetzt mal eingetragen, um mehr Informationen zu erhalten, erwarte mir aber eher wenig bis nichts.Möglicherweise wird das so ähnlich wie bei den Piraten, der letzten linken Erweckungshoffnung.

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