Die 1990er: Vom schlimmsten Jahrzehnt und seinen Helden

Katja Kipping in ihrer Rede auf dem Leipziger Parteitag der Linken:

Das sind jene, die nach 89 sich nicht damit abfinden wollten, dass der  Kapitalismus das Ende der Geschichte ist. Unsere Partei verdankt euch so viel. Dass es uns überhaupt noch gibt, ist zuallererst das Verdienst jener lebenserfahrenen Genossinnen und Genossen, die damals nicht dem Zeitgeist nachgegeben haben.

Da hat sie mal recht. Wenn ich zurückdenke an die Neunziger: Man führte ausschließlich reaktionäre, rechte und vor allem völlig sinnlose Diskussionen. Ossi gegen Wessi, mit souveräner Missachtung aller soziologischer Erkenntnisse. Die Wessis waren damals die Ossis und die Ossis waren die Flüchtlinge von heute. Wahrscheinlich sind die Ostdeutschen heute deshalb so drauf.

Dann kamen die Börsengurus, im Zuge der allgemeinen neoliberalen Ausrichtung von Politik und Gesellschaft, die ja immer auch eine Verblödung, eine ökonomische Analphabetisierung bedeutet. An der Börse werden alle reich und die Börse versorgt uns mit einer guten Altersrente. Daran glauben wohl immer noch viele. Politiker hängten sich sofort dran und führten die unausgesprochenen Befehle des Kapitals durch: Rentenprivatisierung, wie man das nannte, und Privatisierung von Lebensvorsorge und Daseinsvorsorge allgemein. Der Privatisierungsbegriff wurde damals vielleicht erst erfunden, ein genialer Schachzug. Solide Verhältnisse zu ausbeutbaren machen, Strukturen der Renditelogik unterwerfen, nennt man „privatisieren“. Privat klingt so heimelig. Die Medien, vor allem die seriösen und die staatlich finanzierten, führten die Massen in die Geheimnisse der Börse ein. In dieser Zeit entstand auch die vierfache Gleichung: Geht es der Börse gut, geht es der Wirtschaft gut, geht es dem Land gut, geht es den Menschen gut.

Zwischendrin irgendwo: Die Verkündung des Endes der Geschichte. Das ist auf dem intellektuellen Level, der Erde zu attestieren, sie sei flach, nicht rund. Aber damals nahm man das ernst.

Man schaut heute geradezu ungläubig auf diese verrückte Zeit zurück.

Und in dieser Zeit gab es tatsächlich Menschen, die nach wie vor auf die Gültigkeit von Marx hinwiesen, auf die perfide und alleszerstörende Macht kapitalistischer Logik, die, für damalige Verhältnisse revolutionär, darauf hinwiesen, dass Geld nur Gültigkeit haben kann, wenn dafür Arbeit geleistet wird. Man hörte sie nicht, sie bekamen keine Sendeplätze, sie machten dennoch ihren Streifen. Robert Kurz fällt mir spontan ein, aber es sind unzählige, die ihr Wissen und ihren Elan aus den Siebzigern und Achtzigern (und vielleicht noch aus früheren Zeiten) herübergerettet haben und die es schlicht besser wussten.

Gibt es überhaupt schon historische Forschung zu diesem Jahrzehnt? Dem schlimmsten vermutlich direkt nach der Hitlerzeit, wie man sagt. Modetechnisch allerdings gab es Fortschritte, das soll nicht verschwiegen werden.

Wir bauen den unbekannten Sozialisten und den lebenserfahrenen Genossinnen der 1990er Jahre ein Denkmal, einen Platz, der Besinnungsbereiten zur Andacht und zur Weiterentwicklung des Sozialismus, des Kommunismus und anderer humaner Projekte dienen könnte.

Vielleicht das hier umnutzen, ergänzt um ein Café mit Diskussionsanspruch:

(Foto: genova 2018)

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20 Antworten zu Die 1990er: Vom schlimmsten Jahrzehnt und seinen Helden

  1. dame.von.welt schreibt:

    (Foto: genova 2018)? Ich sehe keins.

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  2. genova68 schreibt:

    Interessant, das Bild ist weg. Ich reiche es nach.

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  3. Jakobiner schreibt:

    Nicht zu vergessen in den 90ern: Positiv denken, Don´t worry be happy, Motivationstrainer und Persönlichkeitsgurus für Ich AGs , Tschaka , glühendes Kohlenlaufen und Manfred Krugs Telekom-Volksaktie. Desweiteren: „Dienstleistungswüste Deutschland“und Standort Deutschland.Dazu noch der Wirtschaftsnobelpreis für die Black& Scholesformel, die behaupetete bis auf 3 Dezimalen hinter dem Komma die Entwicklung der Börse vorraussagen zu können, bis dann beim Crash der „New Economy“ der Hedgefundbesitzer und Nobelpreisträger Scholes pleite ging.

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  4. heinz schreibt:

    Damals wie heute ein Thema: Flüchtlinge bzw. Asylanten, wie man damals sagte. Liest man Artikel aus den 90ern könnten die fast von heute sein:
    „Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine verschreckt die Linken mit seinem neuen Wahlkampfthema: Wirtschaftsflüchtlinge und „Scheinasylanten“, so sein Vorschlag, sollen mit einer Grundgesetzänderung außer Landes gehalten werden. Bringt der populäre Vorstoß gegen das Asylgrundrecht den SPD-Vize aus dem Umfragetief? “
    http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13499604.html

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  5. Jakobiner schreibt:

    Damals hat das neue Asylgesetz der CDU/CSU/FDPkoalition sehr nachhaltig die Umfragewerte der Republikaner gesenkt. Ein Kalkül, dass die CSU jetzt und Wagenknecht und Lafontaine auch heute noch gegenüber der AfD haben. Mit einem Unterschied: Dass die damalige Flüchtlingswelle begrenzt war auf Jugoslawien und noch nicht auf ganz Afrika und den Greater Middle East, zudem die Republikaner mit SS-SChönhuber einfacher als Nazis auszumachen waren und auch noch nicht im Bundestag, noch in irgendeinem Landesparlament sassen.Diesen massiven Staatenzerfall, die Globalisierungseffekte, die imperialistischen Kriege wie den Irakkireg 2003 oder den NATOeinsatz gegen Ghaddafi gab es noch nicht, wie diese ganzen regime change-Geschichten.Da wurden die Büchsen der Pandorra geööfnet und deswegen ist es auch naiv zu glauben, dass die AfD mittels CSUkurs verschwinden würde, zumal auch damals es noch nicht drei so revisionitische Großmächte wie TRump-USA, Putin-Rußland und Xi-China wie auch revsionitische Regionalmächte wie Erdogantürkei, Iran und Saudiarabien gab, die im Zusammenspiel mit den USA und Rußland den Greater MIddle East systematisch zerlegten.und die Welt nun noch weiter zerlegen werden.Und inzwischen n ist die Eu zum einen wegen ihrer eigenen expansionitsichen und neoliberalen Ausrichtung auch äusseren Feidnen ausgesetzt, dass ihr Bestand inzwischen gefährdet ist, was Joschka Fischer als existentiell gefährdet benennt.
    Putin hat erklärt, dass er ein Interesse an der Weiterexistenz der EU hätte aufgrund stabiler Wirtschaftsbeziehungen. Seine anderen bisherigen Taten, wie etwa die 40-Millionen-Kredit für den Front National sowie die Umgarnung nationalistischer Parteien, die gerade die EU zerstören wollen sprachen bisher eine andere Sprache. Kann man ihm trauen? Nichts destotrotz faselt jetzt der neue US-Botschafter Grenell auf Breitbart News von der Unterstützung für Konservative in Europa. Bisher meint er nur Kurz, aber Breitbartnews-Ex-Chef Bannon tourt ja gerade in Europa und hat in Orban-Ungarn, das eine „illiberale Demokratie“, sprich autoritäre Diktatur will neben anderen europäischen Rechtsradikalen sein neues Mekka gefunden. Mit konservativ dürften also auch rechtspopulistische und rechtsradikale Parteien gemeint sein.Scheinbar beabsichtig (auch) Trump die EU zu zerstören, wie er ja auch schon den Brexit lobte.Und Chinas neugegründete 16 plus 1- Gruppe ist ja auch schon ein chinesischer Hinterhof in der EU. Scheinbar sind da drei EU-Zerstörer am Werke.

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  6. neumondschein schreibt:

    Einwände:

    1.
    Die AfD ist etwas vollkommen anderes als Schönhuber oder Schill, Haider. Letztere sind einfach Rattenfänger. Ihre Parteien enthalten die Leute, die der jeweilige Rattenfänger einsammeln konnte. Mit dem Ende des jeweiligen Rattenfängers verschwanden auch die Parteien wieder. Die AfD besteht zum großen Teil aus gestandenen Politikern und macht gewöhnliche Parteiarbeit. Sie werden wir nicht mehr so schnell los. Zumal diese Partei auch immun gegen sämtliche Anfechtungen ist. Mit Vorwürfen wie Frauenfeindlichkeit und Rassismus konnte man die Piratenpartei zerschmettern aber nicht die AfD.

    2.
    Putin will wirklich eine einige, politisch handlungsfähige EU. Sein Problem ist die transatlantische Einbindung der EU. Und die Unterstützung von LePen ist auch nur Propaganda. Putin unterstützt jeden, der potentiell guten Willens ist, mit ihm zusammenzuarbeiten. Le Pen wie Macron. Putin, Erdogan, Xi, sind nicht die Ursache des Rechtspopulismus in der westlichen Welt. Le Pen, Salvini und Orban sind auch nicht von vornherein antieuropäisch. Die wollen ihre wirtschaftlichen Probleme lösen. Hierfür müssen sie die Machtposition Deutschlands bekämpfen und die Verfassung Europas modifizieren, also die Verträge von Maastricht, Nizza, Lissabon.

    3.
    Daß der Nahe Osten von sogenannten revisionistischen Mächten zerlegt würde, ist erst recht nicht wahr. Von Mossadeghs Sturz 1953, über die unzähligen militärischen und nicht-militärischen Interventionen, einschließlich des Einmarsches in den Irak und Afghanistan und dem Völkermord im Jemen, bis zur Bewaffnung und Ausbildung terroristischer Banden hat das transatlantische Bündnis den Nahen Osten destabilisiert, daß es eine wahre Pracht ist. Dafür brauchte man Trump wirklich nicht dazu.

    4.
    „revisionistisch“ ist hier auch die verkehrte Vokabel. Transformierende Gesellschaften wäre angemessener, Gesellschaft, die sich zu eigenständigen kapitalistischen Mächten entwickeln, wie Mitte des 19. Jhdt. Deutschland und Japan. Das oberste Ziel der transatlantischen Elite ist die Verhinderung von Souveränität potentiell kapitalistisch erfolgreicher Mächte wie die Türkei und China, weil dann die Weltpolitik nicht mehr durch die Finger der Vereinigten Staaten laufen würde. Trump hingegen betrachtet die transatlantischen Bündnispartner als Konkurrenten, und die Zeit für die seit dem Zweiten Weltkrieg bestehende globale Hegemonie seines geliebten Heimatland als abgelaufen.

    5.
    „illiberal“ is auch verkehrte Variable für Ungarn. Die EU ist ja an und für sich ein antidemokratisches Projekt. Und auch die Demokratie in allen ihren Mitgliedsstaaten hat beträchtlichen Schaden genommen. Nicht wegen der Rechtspopulisten.

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  7. Jakobiner schreibt:

    Zu 1) Rattenfänger sind die AfDler auch. Der Unterschied aber zur dumpf teutonischen und offen faschistischen NPD und den Republikanern ist, dass erstere beide vor allem auf ehemalige Nazis setzten und SS-Schönhuber ja auch sein offenes Bekenntnisbuch zur Waffen-SS „Ich war dabei!“ veröffentlichte, das ihm seinen Posten als Moderator der BR-Diskussionsveranstaltung „Jetzt red i“ und seine MItgliedschaft im „Franzensclub“( Anhänger von FJStrauss) kostete.Anfangs wurden die Republikaner vom nationalkonservativen Ex-CSLer Handlos geleitet, doch Schönhuber übernahm die Regie und füllte die Reiehen offen mit NPDlern und DVUlern.Bei der AfD vermedite man Leute aus NPD und DVU in ihren Reihen, zudem ist sie mehr eine Harzburger Front zwischen Nationalkonservativen wie Padzerski und Faschisten wie Höcke.Aber das macht sie nicht weniger rattenfängerisch un drechtsradikal. Sie will eine autoritäre Ditkatur ala Orban oder Putin-Rußland.

    Zu2) Wenn Putin so die EU wollte, warum gibt er dem Front National dann einen Kredit über 40 Millionen Euro und unterstützt rechtsradikale und antionalistische Parteien, die allesamt die EU weg haben wollen?

    Zu3) 1990 war der erste US-Krieg im Nahen Osten. Aber Bush senior rückte nicht bis Baghdad vor und liess Saddam im Amt, da er den Staatenzerfall befürchtete. Erst in den 2000ern führten die USA Kriege und Aktionen, die zum Staatenzerfall führten, sei es Syrien, Irak, Lybien oder Jemen, Zuvor hatte man niemals derartigen Staatenzerfall im Nahen Osten noch solche Flüchtlingswellen. Die NATO wurde nur in Afghanistan und in Lybien eingesetzt, sonst nirgends.

    Zu 4) „revisionistisch“nennt Trump China und Rußland in seiner neuen Nationalen Sicherheitsstrategie (NSS) 2017 und dieser Begriff trifft sicher auch auf die USA zu, da sich diese nicht mit dem Status Quo arranbgieren will, sondern die absolute Dominanz der USA in Weltwirtschaft und militräischem Gebiet wiederherstellen will wie in den 50er Jahren.

    Zu 5) „illiberal“ ist wiederum ein Originalbegriff von Victor Orban, der eine „illiberale Demokratie“forderte. Dabei grenzt er sich bewusst von dem Liberalismus eines George Soros mit seiner Open Society-Stiftung in der Tradition Carl Poppers ab.

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  8. stadtauge schreibt:

    Zustimmung! Wenn ich an die Zeit denke, fallen mir ähnliche schmerzvolle Dinge ein!
    Geschichtsunterricht geht bis 1990. Weiter sind wir noch nicht gekommen…
    LG Daniel

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  9. genova68 schreibt:

    neumondschein,
    die AfD besteht mitnichten zum größten Teil aus gestandenen Politikern. Das sind ein paar, Gauland und Hohmann, das wars. Die meisten sind Neulinge, viele prekäre Existenzen, viele völlig ungehobelte Stammtischler. Der Unterschied zu damals ist nur, dass das heute viele nicht mehr stört.

    Die AfD wird irgendwann in Sachen Renten und Wirtschaftspolitik Farbe bekennen müssen. Dann wird man feststellen, dass Neolibertäre wie Weidel und Leute wie Höcke, die von „organischer Wirtschaft“ reden und dem NS nicht fern sind, nicht zusammengehen. Ich bin gespannt aufs Rentenkonzept, das derzeit dort diskutiert wird.

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  10. Jakobiner schreibt:

    Genova,mit den Stammtisch-AfDlern stimmt das nur zur Hälfte. Die Partei mit dem höchsten Akademikeranteil im deutschen Bundestag ist nämlich die AfD. Alles GeBILDete Menschen.
    Nicht zu vergessen in den 90ern auch die Jugoslawienkriege.Neben der Sowjetuion ein blutiger Staatenzerfall, den es in dieser Form noch nicht so gegeben hatte. Aber da war das noch kein allgemeines und flächendeckendes Phänomen im Greater Middle East.

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  11. genova68 schreibt:

    Der höchste Akademikeranteil? Sieh an. Wobei das mit dem ungehobelten Stammtischler gemein gehen kann. Der Typ hier mag als Beispiel gelten:

    https://de.wikipedia.org/wiki/Stephan_Brandner

    Das war bei den Nazis früher ähnlich, glaube ich. Wobei das sowieso nicht als Proletarierbashing von mir verstanden werden darf.

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  12. neumondschein schreibt:

    Gauland und Hohmann

    …und Erika Steinbach und Christine Ostrowski. Nein die nicht. Die empfiehlt dem deutschen Volk nur die AfD, nachdem sie wegen Lafontaines Populismus aus der Linken ausgetreten ist. Dafür ein Christopher Pietsch, welcher nach dem Übertritt von der Linken zur AfD schwul geworden ist, u.v.a. Man beachte auch all die Denkpanzer wie Zivile Koalition und Hayek-Gesellschaft und all diese DDR-Bürgerrechtler wie Vera Lengefeld sowie den Schriftsteller, der den „Turm“ verbrochen hat. Sind nicht alle in der AfD. Aber wirklich arbeitnehmerfreundlich sind die alle auch nicht. Das alles vernetzt sich hervorragend.

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  13. neumondschein schreibt:

    Und die anderen, die nicht AfD sind oder denen oder PEGIDA nahestehen, sind auch nicht besser. Dieses sogenannte Russiagate ist die übelste Verschwörungstheorie, die in letzter Zeit im Umlauf gebracht worden ist. Der Einfluß Rußlands auf den Westen ist tatsächlich eher marginal. Israels Propagandaoffensive, genannt Hasbara, ist da viel wirkmächtiger. An der Entwicklung der Neuen Rechten wren sie entscheidend beteiligt. Deren Moslemhasserei ist das entscheidende Werkzeug, um die internationale Rechte erneuern zu können.

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  14. Jakobiner schreibt:

    Der Stammtisch ist ein eher ländliches Phänomen, das es natürlich auch in München oder Großstädten vor allem in den jeweiligen Lokalkneipen oder Cafes gibt und zumal auch oft mit diversen Vereinen oder Parteien oder anderen gesellschaftlichen Gruppierungen zusammenhängt, die aber über Mitgliederverlust und Überalterung klagen. In Großstädten wie München , dem Millionendorf findet er zumal auch in größerer Dimension, in Form der Bierhallen oder Biergärten im Sommer statt.Im Buch von David Clarke Large „Hitlers München“ist dazu zu lesen:
    „Es gehört zu den eigenartigen Paradoxien der neueren europäischen Geschichte, daß die Geburtsstadt des Nationalsozialismus, die „Hauptstadt der Bewegung“und kulturelle Perle des Dritten Reichs, sich in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg in aller Welt einen Ruf als die toleranteste, bürgerfreundlichste und heiterste Stadt Deutschlands erworben hatte. Während das preußische Berlin für autoritären Militarismus und anmaßende Selbstüberschätzung stand, galt München als die Stadt der „prächtigen“ Bauten, der Kunstmuseen und der Gemütlichkeit. Im egalitären und beschwingten Klima Münchens könne man fast vergessen, daß man sich in Deutschland befand.
    Dieser Ruf liebenswürdig-demokratische Geselligkeit hing offenbar nicht zuletzt mit Münchens berühmtesten Wirtschaftsgut zusammen, seinem Bier. „Das Bier ist ein großer konstitutioneller, politischer und sozialer Gleichmacher“, schrieb der amerikanische Konsul 1874. „Auf dem Oktoberfest sieht man Große und Geringe eng aneinadergeschmiegt auf den rohen Bänken sitzen.“ Der Dramatiker Max Halbe, der 1895 aus dem geschäftigen, aber „vom Mammon beherrschten“Berlin nach München umgezogen war, stellte fest, es gehe hier zumindestens in urigen Lokalitäten wie dem Hofbräuhaus, „keinen Unterschied…zwischen Reich und Arm, Vornehm und Gering, ja nicht einmal zwischen Minister und Droschkenkutscher.“. „Wenig andere Orte sind so demokratiusch“, befand auch der amerikanische Reisende Robert Schauffler in seinem 1909 erschienenen Artikel „Munich- A City of Good Nature“: „In den großen Bierkellern, wo München einen erheblichen Teil seiner Freizeit verbringt, ist ein Mensch gerade so gut wie der andere. Man findet dort den Bürgermeister und einen Armeehauptmann in engster Tuchfühlung mit einem Kaminfeger und einem Straßenhändler, und alle unterhalten und amüsieren sich miteinander ohne Berührungsangst.“
    So berechtigt diese schwärmerische Sicht der Dinge auf den ersten Blick sein mochte, so überdeckte und übersah sie doch einen anderen Aspekt der Münchner Bierkellerkultur: die nicht seltenen Schlägereine und Tumulte, in deren Verlauf die schweren tönerernen Maßkrüge, nach Preisgabe ihres labenden Inhalts, zu gefährlichen Waffen konvertiert waren. Den Zündfunken, der zum Ausbruch slcher Maßkriege führte, lieferten häufig ideologische Wortgefechte, denn die großen Münchner Bierkeller boten ein ideales Forum für Agitatoren jeder politischen Couleur. Auch Meinungsverschiedenheiten in ästhetischen Fragen konnten zu Blutergüssen führen“. (Hitlers München, S. 10, C.H.Beck 1998).
    Jedenfalls stehen die Bierhallen und Stammtische im Ruf Brutstätten rechtsradikalen Gedankenguts zu sein, reaktionär, für Bierdimpfel und unzivilisierte Menschen, zu denen sich der Bildungsbürger besser nicht gesellt, obgleich jene Klein-, Groß- und Teile der Bildungsbürger ja auch die Stammmannschaft der Nationalsozialisten und ihrer Unterstützer ausmachten und nicht die Arbeiter, bestenfalls Lumpenproletarier, die sich in der SA zusammenfanden, aber zumeist auch mehr deklassierte Kleinbürger waren.

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  15. Jakobiner schreibt:

    Stammtische stehen heutezutage in keinem guten Ruf, zumal ja vielen Politikern und vor allem Populisten die „Lufthoheit über die Stammtische“als ihr Erfolgsrezept angekreidet wird, was als Synonym für die Anpassung an einen nationalistischen, proletigen, bierseligen Ort der Geselligkeit assoziiert wird, der zumal oft recht xenophop, auf Ausgrenzung, antiintellektuell, grobschlächtig und kleinkariert angesehen wird, zumal auch als Auslaufmodell der niedergehenden bayerischen Wirtshauskultur und des zunehmenden Gesundheitsbewußtsein, das verräucherte und biertrinkende Kneipen und Cafes zugunsten von Mineralwasser und Chilloutzonenmeidet und auch andere Freizeitsangebote, allen voran Fitnessstudios und jugendlicheren hipperen Latte Maciattocafes mit WLAN-Anschluß und sportliche Aktivitäten bevorzugt.Im schlimmsten Fall: Pils, Bitter Lemon , Energy Drink, Smoothie, Aperol oder das jeweils hippeste stylische Modegtränk der Getränke- und Kulturindustrie statt Weißbier–dadurch wollen sich auch noch einige selbseingebildete Yuppies absetzen vom vermeintlichen Proleten.Wenn es nicht über Bildung und Inhaltliches geht, so doch über Lifestyle und all seine Äußerlichkeiten, um zu signalkisieren, dass man “was Besseres”sein will. Zumal früher der Stammtisch mit dem Kirchgang verbunden war, also sehr konservativen Institutionen und altertümlichen Ritualen oder bestenfalls bildungsbürgerlich nach dem Internationalen Frühschoppen von Werner Höfer im ARD existierte, vielleicht noch beim Schachspiel,wo trefflich über Weltpolitik gestritten und debatiert wurde, zumal rauchend und dem Alkohol nicht abgewandt, auch noch mit sexistischen Zoten der Männergeneration, die Alice Schwarzer als die “Old School”betitelte, man sich aber als jüngerer Mensch auch nicht mehr in einer Kneipe oder in Cafes trifft, die mehr als Rentner- und Gammelfleischansammlungen gelten, sondern im Internet, Internetcafe, auf Facebook, privat und falls man sich trifft in einem Szeneschuppen vor allem head down mit seinem smartphone oder WLANnabelschnurangebunden mit Tablet kommuniziert und nicht mit den Anwesenden

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  16. dame.von.welt schreibt:

    Blogs und deren Diskussionen sind auch nix anderes als Stammtische.

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  17. heinz schreibt:

    „Christine Ostrowski. Nein die nicht. Die empfiehlt dem deutschen Volk nur die AfD“
    Interessante Karriere: Von der PDS über die FDP zum AFD-Testimonial.
    Wiglaf Droste schrieb über sie bereits in den 90ern:
    „Dort, in der deutschen Baracke, dürfen dann Leute wie
    Rainer Langhans, Wolfgang Niedecken und Christiane Ostrowski zu Besuch
    kommen und nach Herzenslust mit denen plaudern, zu denen es sie zieht (gemeint sind Nazis).“
    https://www.nadir.org/nadir/archiv/Sexismus/Diskussion/Heiter_bis_Wolkig/msg/msg00027.html

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  18. genova68 schreibt:

    Was hat denn Niedecken mit dieser AfD-Frau zu tun? Auch ansonsten ist das dieses Droste-Gelaber.

    Stammtisch meinte ich natürlich abwertend, aber nicht nur als reales Phänomen vor Ort. Der Stammtisch heute steht vorzugsweise im Internet. Es geht da nicht einfach um Polit-Diskussion, sondern ums Niveau.

    neumondschein,
    wenn ich zusammenfassen darf: Der Russe ist der Nette, vom bösen Westen aber dämonisiert, und Schuld hat naturgemäß der Jude.

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  19. neumondschein schreibt:

    wenn ich zusammenfassen darf: Der Russe ist der Nette, vom bösen Westen aber dämonisiert, und Schuld hat naturgemäß der Jude.

    der Protestant hat naturgemäß schuld. Nicht der Jude. Die protestantischen Gegenden, sind die mit dem globalen Hegemonieanspruch. Zionismus ist auch erheblich protestantischer als jüdisch. Der Russe dagegen steht nach wie vor in der zweiten Reihe, was Wirtschaft und Hegemonialanspruch angeht. In dieser Disziplin treten Chinesen, Vietnamesen und Koreaner bedeutend härter hervor. Mal so ganz realistisch gesehen.

    Schauen wir uns einmal die far-right-Medien und -Organisationen an: also Breitbart, Counterjihad, Don Alphonso, English Defense League, pi-news.net. Die gab es lange bevor Clinton die bis dahin entspannten Beziehungen zu Rußland zerstörte. Aus diesen Medienoutlets gingen zunächst mäßig erfolgreiche Parteien und Organisationen hervor wie ProDeutschland. Die allerdings wären vollkommen bedeutungslos geblieben, wenn öffentlich-rechtliche Medien, Monopolpresse und die sogenannte Zivilgesellschaft sie nicht unterstützt hätten. Die rechten Parteien mußten da nur zugreifen und ihre alte vermoderte und von Schuld angegriffene Ideologie gegen die vom Zeitgeist unterstützte austauschen. Das Ergebnis davon sind AfD, LePen, Geert Wilders. Diese Parteien berührt gegen sie gerichtete Vorwürfe überhaupt nicht. Die sind alle gar nicht antisemitisch. Vielmehr sind die echt-Linken, wirklich-Liberalen, aus der Levante vertriebenen Flüchtlinge, also alle, diejenigen, die Rechte hassen, die sich antisemitisch darstellen, und die den nächsten Holocaust vorbereiten. Die Linken, die 68er, die linksgrünversifften Gutmenschen muß man doch bekämpfen, ehe es zu spät ist! Wehret den Anfängen! Rechts ist die neue Antifa!

    Russiagate hingegen ist eine radikal-antidemokratische Ideologie. Das richtet sich ja nicht gegen Trump und seine far-right-Adepten sondern gegen die Rechte und Freiheiten der Bürger, gegen Grüne und Umweltschützer, echt-Liberale, wirklich-Linke, Sozialdemokraten. Russiagate ist sowas ähnliches wie McCarthyismus. Alles, was CNN nicht in den Kram paßt, sei angeblich von den Russen bezahlt. Eine echte Verschwörungstheorie also. Die politische Zensur und Repression (weil die Gegenpresse von Russen bezahlt) rechtfertigt. An und für sich stellt Clinton die weit größere Gefahr dar als einst McCarthy. Denn der Kommunismus von damals war eine weltweit verbreitete Ideologie, während Rußland höchstens regional von Bedeutung ist.

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