Verfügungsrecht über den Boden: Vom positiven Aspekt der Charta von Athen

Die Charta von Athen ist out, schon lange. Seit den 1960ern ist der totalitäre Aspekt dieser Stadtentwicklungsideen moderner Architekten as dem Jahr 1933 massiv kritisiert worden, völlig zurecht. Im Extremfall führten die Ideen der aufgelockerten und micht Luft und Sonne gesegneten Stadt zu Ansätzen wie Corbusiers Plan Voisin für Paris oder Ludwig Hilberseimers Abrissfantasien für die Berliner Friedrichstadt. Diese Architektur sollte am rechten Seineufer entstehen, was den Komplettabriss ganzer Stadtviertel vorausgesetzt hätte:

Die Charta von Athen kann man aus ihrer Zeit heraus sehen und verstehen. Die völlige Geschichtsvergessenheit haben allerdings schon viele zur Entstehungszeit kritisiert.

Ein anderer Aspekt der Charta ist jedoch kaum bekannt, dafür umso bemerkenswerter. In Bezug auf die Eigentumsverhältnisse am Boden liest man:

91: Der Gang der Ereignisse wird grundlegend beeinflußt durch politische, soziale und wirtschaftliche Faktoren.

92: Und gerade hier wird die Architektur – nicht als letzte Kraft – eingreifen können.

93: Der Dringlichkeit der durchzuführenden städtebaulichen Arbeiten steht die Tatsache einer grenzenlosen Grundbesitzzerstückelung entgegen.

94: Der hier festgestellte Widerspruch deutet auf eines der gefährlichsten Probleme der Gegenwart: Die Notwendigkeit, das Verfügungsrecht über den städtischen Grund und Boden gesetzlich so zu regeln, daß die Lebensbedürfnisse des Einzelnen mit den Ansprüchen der Gemeinschaft in Einklang gebracht werden.

95: Das Privatinteresse muß dem Gemeinschaftsinteresse untergeordnet werden.

Enteignung, soziale Bodenreform, ein Ende der Renditeansprüche an den Boden, Kampf den kapitalistischen Ausbeutern: So muss man diese Passagen lesen. In den 1920ern und 1930ern war es üblich, die Bodenfrage zu stellen. Bis in die 1950er Jahre der Bundesrepublik auch noch. Tut man das heute, ist man Linksextremist.

„Eines der gefährlichsten Probleme der Gegenwart“ ist also das Privateigentum am Boden: Ein ziemlich aktueller Satz, den man selbstverständlich heute hervorkramen müsste. Gerade im Wahlkampf könnte und müsste jeder ernstzunehmende linke Politiker die massive Enteignung städtischen Bodens fordern, oder weitergehend: jedem Renditeanspruch auf Boden eine Absage zu erteilen. Die Marktpreise würden dann von selbst in den Keller gehen.

Angesichts unserer kapitalhörigen Politiker von der AfD bis zur Linkspartei ein frommer, wie man sagt, Wunsch. Es wäre notwendig, an diese Enteigungsforderungen wieder anzuschließen. Privateigentum am Boden jenseits der Eigennutzung muss abgeschafft werden.

Die Architektenschaft heute ist meilenweit von jedem ernstzunehmenden politischen Anspruch entfernt. Statt den Kapitalisten aufs Maul zu hauen, entwirft man 15qm-„Wohnungen“ für Singles. Statt klare Kante zu zeigen, prostituiert man sich. Selbst ein als links geltender Architekt wie Arno Brandlhuber hat, wie es scheint, einen nur mäßigen politischen Durchblick.

Auch die meist sehr lesenswerte Laura Weißmüller schreibt in der Süddeutschen Zeitung zum Thema Mikrowohnungen:

Beim einzelnen Raum sparen und dafür der Gemeinschaft mehr Platz geben, genau das könnte die Lösung sein, um die Wohnungsnot zu bekämpfen.

Ja, völlig richtig, aber notwendigerweise hinzufügen muss man: Die Verwertungsansprüche auf Boden auf null runterfahren. Wie man gerade in München diesen Aspekt nicht beachten kann, ist mir schleierhaft.

Insofern sollte man die Charta von Athen wieder rauskramen. Einerseits, um dort die Dialektik der Aufklärung zu lernen: Das technisch Machbare ist unter progressiven Vorzeichen nicht immer machbar. Und andererseits als Beispiel dafür, um wie viel weiter man sozialpolitisch vor 100 Jahren war.

Die Geschichte des Kapitalismus als eine der permanenten Regression: Hier finden wir dafür ein schönes Beispiel.

 

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