Rücksichtslos und aufopfernd selbstdiszipliniert: Der Weg zum guten Menschen

Isaiah Berlin über Karl Marx:

„Diese unnachgiebige Strenge gegen persönliche Empfindungen und die nahezu religiöse Forderung nach aufopfernder Selbstdizisplin wurde von seinen Nachfolgern als Erbe übernommen und von seinen Feinden in jedem Land nachgeahmt…“ (Isaiah Berlin: Karl Marx. 1958 (Erstausgabe 1938, London), S. 297)

Und:

Die permanente Revolution [Masse wird durch Elite gelenkt, Zwischenspiel auf dem Weg in den Sozialismus, Anm. v. genova] muss durch die Diktatur des Proletariats herbeigeführt werden: aber wie soll dieser Zustand erreicht werden und welch Form soll er annehmen? Es steht außer Zweifel, dass Marx dabei an eine selbstgewählte Elite dachte…: als kleine Gruppe überzeugter und rücksichtsloser Individuen, die die diktatorische Gewalt an sich reißen und das Proletariat erziehen sollte, bis es ein Niveau erreicht hatte, auf dem es seine eigene Aufgabe begreifen konnte.“ (S. 197)

Aufopfernde Selbstdisziplin, rücksichtslose Individuen, diktatorische Gewalt, Erziehung des Proletatriats: Spätestens bei Lenin wurde die Geschichte offen repressiv, seine Ablehnung Stalins war wirkungslos.

Die Affinität von Teilen der aktuellen Linken zu Autoritäten und Unterdrückung ist bekannt. Nicht zufällig finden sich bei Wählern der Linkspartei ungemein viele Anhänger von Putin. Wichtige Verteidiger dieses Typen sitzen im Bundestag, beispielsweise Dieter Dehm. Sahra Wagenknecht springt gerade auf den rechtsradikalen Zug auf und hält Deutschland für eine „Kolonie“ – das ist der aktuell übliche Jargon Rechtsextremer, die meinen, dass die Juden und die Ostküste/Amis/Fed uns besetzt halten.

Ich habe Wagenknecht kürzlich auf die antisemtischen Tendenzen Albrecht Müllers, des nachdenkseiten-Chefs aufmerksam gemacht. Ich bekam keine Reaktion, sie gab kurz darauf den nachdenkseiten ein Exklusiv-Interiew. Man versteht sich.

Wagenknecht ist mittlerweile Heldin von Rechtsradikalen. Sie wird auf vielfache Art umworben, ihre Bundestagsreden werden beklatscht. Sie könnte sich distanzieren, wenn sie das wollte. Sie fischt offenbar gerne im Braunen.

Wenn man sich nun noch über Wahlen unterhalten will: Im Grunde genommen ist die einzig wählbare Partei mittlerweile die von Sonneborn. Oder man bleibt zuhause, was nicht die schlechteste Idee sein dürfte. Die 250.000 TTIP-Gegner vom Samstag machen Mut – trotz ein paar Deppen von AfD, NPD, Pegida, Montagsquerfront und rechter Friedensbewegung im Demonstrationszug. Campact etc. wird TTIP nicht verhindern, dazu sind die Kapitalinteressen zu massiv. Dennoch entsteht aus solche einer Demo eine gewisse Selbstvergewisserung.

Es irritiert auch – zurück zum Thema – wenn Isaiah Berlin die Auseinandersetzungen zwischen Marx und Bakunin, Marx und Proudhon, Marx und Lassalle u.a. schildert. Nicht der Inhalte, sondern des Stils, der Heftigkeit wegen. Die haben mit fast allen Mitteln gekämpft, und zwar untereinander, nicht mit dem politischen Gegner, nicht mit dem Klassenfeind. Man mag das als gelungene Polemiken bezeichnen. Doch wem eine bessere, eine solidarische Welt vorschwebt, um das so ganz naiv zu sagen, hat da schon ein Eigentor geschossen.

Stilfragen sind immer inhaltlicher Natur. Man sollte, man muss Marx lesen und verwerten, höhö. Aber der blinde Fleck bei ihm und vor allem bei seinen Epigonen und heute bei vielen sogenannten Linken, die von Rechtsradikalen kaum zu unterscheiden sind, ist einer Betrachtung nicht nur wert – ohne seine Behandlung geht nichts.

Diese Putinversteherei auf der Linken ist nichts anderes als die verklausulierte und nach wie vor typisch deutsche Sehnsucht nach einem neuen Führer und die gleichzeitige Ablehnung westlicher, angloamerikanischer Dekadenz. Ob bei den nachdenkseiten, bei den Montagsmahnwachen, bei Pegida, bei der AfD und anderswo.

Es müsste jeder Wagenknecht und jedem Müller ein Isaiah Berlin an die Seite gestellt werden, und zwar mit umfassenden Kompetenzen. Der völlig nachvollziehbare Hass aufs Kapital und auf die neoliberale und durch und durch effektive Menschenvernichtung bedarf radikaler Humanisten, um sich nicht mit dem Gegner gemein zu machen.

(Foto: genova 2015)

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11 Antworten zu Rücksichtslos und aufopfernd selbstdiszipliniert: Der Weg zum guten Menschen

  1. krisenblogger schreibt:

    Dazu hat Bert Brecht wohl schon alles Relevante gesagt:

    An die Nachgeborenen

    I

    Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!
    Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn
    Deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende
    Hat die furchtbare Nachricht
    Nur noch nicht empfangen.

    Was sind das für Zeiten, wo
    Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
    Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!
    Der dort ruhig über die Straße geht
    Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde
    Die in Not sind?

    Es ist wahr: ich verdiene noch meinen Unterhalt
    Aber glaubt mir: das ist nur ein Zufall. Nichts
    Von dem, was ich tue, berechtigt mich dazu, mich sattzuessen.
    Zufällig bin ich verschont. (Wenn mein Glück aussetzt, bin ich verloren.)

    Man sagt mir: Iß und trink du! Sei froh, daß du hast!
    Aber wie kann ich essen und trinken, wenn
    Ich dem Hungernden entreiße, was ich esse, und
    Mein Glas Wasser einem Verdurstenden fehlt?
    Und doch esse und trinke ich.

    Ich wäre gerne auch weise.
    In den alten Büchern steht, was weise ist:
    Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit
    Ohne Furcht verbringen
    Auch ohne Gewalt auskommen
    Böses mit Gutem vergelten
    Seine Wünsche nicht erfüllen, sondern vergessen
    Gilt für weise.
    Alles das kann ich nicht:
    Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!

    II

    In die Städte kam ich zur Zeit der Unordnung
    Als da Hunger herrschte.
    Unter die Menschen kam ich zu der Zeit des Aufruhrs
    Und ich empörte mich mit ihnen.
    So verging meine Zeit
    Die auf Erden mir gegeben war.

    Mein Essen aß ich zwischen den Schlachten
    Schlafen legte ich mich unter die Mörder
    Der Liebe pflegte ich achtlos
    Und die Natur sah ich ohne Geduld.
    So verging meine Zeit
    Die auf Erden mich gegeben war.

    Die Straßen führten in den Sumpf zu meiner Zeit.
    Die Sprache verriet mich dem Schlächter.
    Ich vermochte nur wenig. Aber die Herrschenden
    Saßen ohne mich sicherer, das hoffte ich.
    So verging meine Zeit
    Die auf Erden mir gegeben war.

    Die Kräfte waren gering. Das Ziel
    Lag in großer Ferne
    Es war deutlich sichtbar, wenn auch für mich
    Kaum zu erreichen.
    So verging meine Zeit
    Die auf Erden mir gegeben war.

    III

    Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut
    In der wir untergegangen sind
    Gedenkt
    Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht
    Auch der finsteren Zeit
    Der ihr entronnen seid.

    Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd
    Durch die Kriege der Klassen, verzweifelt
    Wenn da nur Unrecht war und keine Empörung.

    Dabei wissen wir doch:
    Auch der Haß gegen die Niedrigkeit
    Verzerrt die Züge.
    Auch der Zorn über das Unrecht
    Macht die Stimme heiser. Ach, wir
    Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
    Konnten selber nicht freundlich sein.

    Ihr aber, wenn es so weit sein wird
    Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist
    Gedenkt unsrer
    Mit Nachsicht.

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  2. genova68 schreibt:

    Ich verstehe, ehrlich gesagt, nicht, wie ich das Gedicht in Bezug auf den Artikel deuten soll.

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  3. krisenblogger schreibt:

    Grob verkürzt vielleicht so: Der Weg zum „guten Menschen“ ist mit Leichen gepflastert, und führt letztlich immer in die Barbarei. Noch kürzer: „Das Gute, dieser Satz steht fest, ist stets das Böse, was man lässt“. Aber auch dieses Busch-Zitat (Wilhelm, nicht George W.) zeigt: Der Mensch ist mehr dem Bösen zugeneigt, denn die Zeiten sind seit Menschengedenken finster, mal mehr mal minder.
    Die gute Nachricht: Dieses Böse ist der Humus, der auf dem dann vielleicht das zarte Pflänzlein des Humanismus gedeiht, und auch gleich wieder vergeht oder vom Winde verweht.
    Und alles, was uns bleibt, ist der hilflose Versuch einer Entschuldigung an die Nachgeborenen – sowie der ebenso hilflose Appell, es besser zu machen – irgendwann im nächsten Leben, vielleicht.
    So weit meine, rein interpretatorische, Sicht der Dinge, auch wenn das Brecht-Gedicht natürlich im Kontext des 3. Reiches zu lesen und zu interpretieren ist.

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  4. genova68 schreibt:

    Danke. Ja, man sollte das Gedicht im Kontext des 3. Reiches lesen, heute würde ich das schon mildern. Andererseits ist es meine Predigt hier, dass Faschismus und Neoliberalismus insofern wesensverwandt sind, als dass Widerstand faktisch kaum möglich ist. Im einen Fall landet man im KZ, im anderen Fall wird man umarmt und weggelächelt bzw. einem selbst die Schuld gegeben. Im Faschismus ist die Aufrechterhaltung der Macht stark mit körperlicher Gewalt verbunden, im Neoliberalismus mit weißer Folter. Burn out begegnet man am besten mit einem teuren Ayurveda-Urlaub mit Yoga, natürlich zeitlich begrenzt.

    Vielleicht ist es auch aktuell so, wie Brecht schreibt. Es kann einen das Gefühl beschleichen. Vor einer Weile las ich dieses Interview der Zeit mit Byung-Chul Han:

    Klicke, um auf byung-chul-han-philosophie-neoliberalismus.pdf zuzugreifen

    Alles interessant, auch seine Conclusio, dass man nichts daran ändern kann. Ein Versuch wäre es allerdings gewesen, hätte er ganz konkret diese neoliberale Logik anhand der Zeit aufgezeigt: Eine Zeitung, die sich gerne kritisch gibt und Han interviewt, aber in der kapitalistischen Verwertungslogik drinsteckt und ohne die Rücksicht darauf untergehen würde. Beispiele gibt es zahlreiche, unter anderem das hier:

    Pointiert, geistreich und unbeschwert: Die „Zeit“ kooperiert mit neoliberaler Propagandatruppe

    Han hätte das Gespräch auf die Zeitung und ihre Verwertungslogik bringen müssen, nicht bei dem Mädchen, das Werbung für Primemark macht, stehenbleiben dürfen. Es wäre ein entscheidender Schritt gewesen: Weg vom allgemeinen Lamentieren, das zwangsläufig an einem Punkt stehenbleibt, hin zu konkreten Bezügen, auf die reagiert werden muss. Man erlebt in Berlin immer öfter dieses Salondenken: Man sitzt in durchgentrifizierten Gegenden und lamentiert feinsinnig über pseudointellektuelle Zusammenhänge statt das konkret zu machen. Es ist die brave new world, die gerade siegt: Dauerplappern, ohne dass das noch jemand ernst nehmen würde.

    Ähnlich läuft es in der Kunst. Die aktuellen Sachen sind fast alle zahnlos, weil sie wohl nur noch zahnlos sein können. Es wird alles aufgesaugt.

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  5. krisenblogger schreibt:

    Auch ich empfinde ganz stark, dass Brechts Klage an die Nachgeborenen eine zeitlos gültige ist. Zumal der Nationalsozialismus des 3. Reichs ja definitiv eine extreme radikalkapitalistische Ausstülpung rücksichtslosester und menschenverachtender Prägung darstellt.
    Doch der Untergang des 3. Reiches war nur die Fortsetzung des kapitalistischen Systems mit anderen Mitteln – sozusagen der Sieg des Systems gegen einen krankhaften Auswuchs. Eine der fundamentalen Erkenntnisse der Systemtheorie ist, dass Systeme sich immer nur innerhalb ihrer eigengültigen Gesetzmäßigkeiten verändern können, d.h. ihre emergenten Systemeigenschaften bleiben unveränderlich, auch wenn sich diese Systeme dynamisch weiterentwickeln – bis an ihre Systemgrenzen.
    Konkret bedeutet das, dass unser kapitalistisches Weltsystem, mittlerweile unwiderruflich übergegangen ins Stadium des Neoliberalismus, uns unweigerlich an die Grenzen der zivilisatorischen Gesellschaft führen, und dann entweder kollabieren wird, oder durch ein anderes konkurrierendes, in diesem Falle dann überlegenes, System ersetzt werden wird. Das könnte z.B. die Diktatur der künstlichen Intelligenz sein. Dritte Möglichkeit: Alles zurück auf Los, und wir starten wieder in der Steinzeit (derzeit die für mich wahrscheinlichste Variante).
    Für das Individuum, wie auf- oder abgeklärt auch immer, bedeutet das in der Tat die Verurteilung, dieses System entweder aktiv mitzutragen, oder wahlweise zu ertragen, mit der schwachen Option, seine schlimmsten Auswüchse im privaten und politisch möglichen Rahmen (aufklärerisch, humanistisch) ggf. etwas abmildern zu können.
    Jammertiraden haben da immer nur die alte wohlfeile psychologische Entlastungsfunktion –
    ein Mechanismus, dem auch die klügsten und kreativsten Geister bisweilen nicht widerstehen können. Brechts Gedicht ist jedoch sicher mehr als das, auch wenn es die eigene Ohnmacht so erschütternd ausformuliert.
    Aber, wie es ein enger Geistesverwandter von mir einmal so treffend auf den Punkt brachte:
    „Wenn die Welt wirklich schlecht ist, warum sollte ausgerechnet der Mensch sie verbessern können?“

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  6. genova68 schreibt:

    Tja, das nennt man wohl: hoffnungslos.

    Wobei ich nicht verstehe, inwieweit der Holocoaust eine extreme radikalkapitalistische Ausstülpung rücksichtslosester und menschenverachtender Prägung darstellte. Der Vorsatz sechs, zehn oder hundert Millionen Menschen ohne ökonomische Gründe zu töten, verursacht einen Haufen Kosten, keinen Profit (nur für IG Farben etc). Radikalkapitalistisch wäre es gewesen, die Leute zu versklaven und möglichst lange einsatzfähig zu halten, ohne Ansehen von Ethnie, Religion oder sonstigen Zuschreibungen.

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  7. Lemmy Caution schreibt:

    Seltsam. Der Wille zur Macht – auch gegen die Mehrheit – ist das einzige, was ich an den Chavisten, Pablo Iglesias und Sahrah Wagenknecht bestimmt auch bewundere.
    Glaub schon irgendwie an einen Fortschritt. Und der wurd in der Geschichte oft gegen die Mehrheit durchgesetzt. Revolutionen wie die Französische, die Englische, die US-Amerikanische besitzen zu Beginn keine Mehrheit. Zu Beginn waren da kleine Gruppen um ein paar ziemliche Spinner, die sich noch nicht mal besonders grün waren. Warum sollte das bei den Europäischen Sozialisten des 19. Jahrhunderts anders gewesen sein? Marx war verzweifelte ja selbst in seinen Phasen als Aktivist. Das lieferte dann aber bedeutsame Anstösse für die größte Kulturgeschichtliche Errungenschaft: Der Europäische Sozialstaat.
    Der ganze Prozess einer Revolution ist natürlich mit heftigen Kosten und Irrungen verbunden. So eine Revolution kann in einem Desaster wie der Sowjetunion enden.
    Mein Problem mit den Chavisten, Pablo Iglesias und Sahrah Wagenknecht ist, dass ich deren Ideen für letzten Endes sehr schlecht halte.

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  8. genova68 schreibt:

    Um den Willen zur Macht, lieber Lemmy, geht es in dem Artikel nicht, sondern um die Implikationen, die sich daraus ergeben. Natürlich will man Macht und an selbige. Es geht um die Unerbittlichkeit, bei Marx wie bei Wagenknecht, um die Strenge, um den protestantischen Einfluss, der offenbar auch in sozialistischen Gefilden existiert. Das strenge Arbeiterpathos, das nicht etwa abgelegt, sondern umgeleitet wird. Recht auf Faulheit von Lafargue: Damit sollte man sich vielleicht mehr auseinandersetzen.

    Aus Marx folgte Stalin, der Sozialstaat war etwas, was Marx gerade nicht wollte. Der hätte sich wahrscheinlich selbst den Hintern versohlt, wenn er Tarifpartnerschaften und Fordismus noch mitbekommen hätte. Und wenn du Sozialismus für schlecht hältst, dann bewunderst du Wagenknecht in der Tat nur für ihren Machtwillen. Kannst du dann nicht auch Hitler bewundern.

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  9. krisenblogger schreibt:

    Das 3. Reich war doch von Beginn an Raubtierkapitalismus in Reinform. Ein erfolgreicher Putsch der „Zukurzgekommenen“ gegen die besitzende Klasse – aber nicht mit dem Ziel einer gerechteren Verteilung im sozialistischen Sinne, sondern dem einer obszönen Bereicherung und Dominanz der „Deutschen Nation“ auf Kosten der ganzen Welt. Ohne massive Unterstützung der deutschen Großindustrie, die sich willig zum Helfershelfer machte, hätte sich das Regime nie etablieren können.
    Diese sah ihre Chance, durch Aufrüstung, Landnahme und Ressourcengewinne zu profitieren. Heute würde man sagen: Expansion vorantreiben, Personal (sprich: die Bevölkerung) instrumentalisieren, entrechten und ausbeuten, Ressourcen sichern, Konkurrenz ausschalten, Weltmarkt beherrschen.
    Die radikale Ausplünderung des eigenen Großbürgertums, sowie der Finanz- und Kulturelite unter dem Deckmantel eines hochideologisierten nationalen „Sozialismus“ stand am Anfang: Kapitalbeschaffung, systematische Stigmatisierung und Ausmerzung der gesellschaftlich wehrlosesten Gruppen (vornehmlich der Juden), Zerschlagung jedes Widerstandes, Kriegshetze und schließlich die ultimative Ausbeutung und Vernichtung jedes „unwerten Menschenmaterials“.
    Insofern war der Holocaust eine gnadenlos konsequente Folge dieser Vernichtungspolitik alles Andersartigen, das den Zielen der Nazi-Verbrecher im Wege stand. Die Nazi-Ideologie folgte damit einer unbarmherzig rationellen Logik und Effizienz (die später dann an ihre logistischen und manpowerseitigen Grenzen stieß). Man hatte sich schlicht übernommen mit der „feindlichen Übernahme“, erst der eigenen Nation und dann der ganzen Welt: Rücksichtslos und aufopfernd, wenn man so will.
    Bleibt zu bedenken, dass in den Zwangs- und Arbeitslagern sowie in den Rüstungsfabriken nicht nur die Lebens- und Arbeitskraft der 6 Millionen Juden, sondern auch die hunderttausender Zwangsarbeiter systematisch ausgebeutet wurde, bevor das verbrauchte „Menschenmaterial“ schließlich auch rein physisch vernichtet, „verwertet“ (IG Farben, Zahngold) und dann ultimativ entsorgt wurde. Auch hier verrät die Sprache schon früh die pervertierte (kapitalistisch geprägte) Denke hinter konkreten, planmäßig durchorganisierten Untaten nie dagewesenen Ausmaßes.

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  10. genova68 schreibt:

    Ist es Robert Kurz, auf den du dich beziehst? Ich meine, dass der im Schwarzbuch des Kapitalismus ähnlich argumentierte.

    Ich würde vieles von dem, was du schreibst, mittragen, nur nicht in Bezug auf die Menschenvernichtung. Es ging nicht um verbrauchtes Menschenmaterial, sondern um die Tötung von definierten Gruppen. Es ging nicht vorherrschend um deren Ausbeutung. Unter den Juden waren Erzkapitalisten, die hätte man für die monetäre Verwertung nutzen können, man hätte sie weitermachen lassen können statt sie umzubringen. Es wäre ökonomisch sinnvoller gewesen. Wie gesagt, Sklavenarbeit hätte verwertungstechnisch Sinn gemacht, nicht die Organisation bloßer Vernichtung, die viel Geld kostet. Einen Menschen jungen oder mittleren Alters zu töten, hat nichts mit kaptialistischer Verwertung zu tun. Es ist das Gegenteil dessen.

    „Insofern war der Holocaust eine gnadenlos konsequente Folge dieser Vernichtungspolitik alles Andersartigen, das den Zielen der Nazi-Verbrecher im Wege stand. Die Nazi-Ideologie folgte damit einer unbarmherzig rationellen Logik und Effizienz“

    Vernichtungspolitik: ja. Kapitalistisch ist das nicht. Was rationelle Logik und Effizienz angeht: Ja, das sind auch kapitalistische Tugenden, aber nicht um ihretselbst Willen, sondern ratio und Effizienz sollen den Profit steigern. Das tun sie bei ideologisch motivierter Massenvernichtung nicht.

    Es hilft nichts, den Kapitalismus zu dämonisieren.

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  11. krisenblogger schreibt:

    Nein, es ist keineswegs mein Versuch, den Kapitalismus zu dämonisieren, ganz im Gegenteil geht es mir um das tiefere Verständnis der Mechanismen, die ihn vorantreiben.
    Zur richtigen Einordnung der „rationellen Verwertung von Menschenmaterial“ durch die Nazis wäre aus meiner Sicht ihre Rassenideologie relevant. Dahinter steckte ja der krude Gedanke, nein, der Glaube, mit einer überlegenen Menschenrasse die Welt zu erobern. Daher musste, durchaus im Sinne einer (kapitalistisch geprägten) „Produktionsoptimierung“, alles eliminiert werden, was diese Zuchtwahl gefährden konnte. Insofern war vor diesem Hintergrund die restlose Vernichtung der einzige Weg, dieses Ziel zu erreichen – nicht jedoch, ohne zuvor alles an verbleibenden und nutzbaren Arbeitspotenzialen und Wertstoffen herausgepresst zu haben. Aus kapitalistischer Sicht konsequent, und doch so alt wie die Gebrüder Grimm: Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Klingt zynisch, und genau das ist es auch.

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