Der Spiegel über die Folgen der Politik Margaret Thatchers

Zufällig gefunden: Ein Spiegel-Artikel aus dem Jahr 1996, der sich mit den Folgen der Politik Margaret Thatchers in Großbritannien beschäftigt. Die Beschreibung liest sich wie eine ehrliche Bestandsaufnahme heutiger deutscher Politik. Die Engländer waren mit dem neoliberalen Gesellschaftsumbau nur früher dran.

Auszug:

Für Regierungschef John Major steht dennoch fest: „Alle Indikatoren zeigen, daß unsere Wirtschaft immer besser dasteht. Wir liegen in Europa an der Spitze.“

Den Optimismus des Premierministers teilen zwar immer weniger Bürger, dafür um so häufiger ausländische Investoren. Für sie zählt Großbritannien mittlerweile zu den attraktivsten Wirtschaftsstandorten Europas. Allein mehr als 1.000 deutsche Unternehmen produzieren auf der Insel, sie schufen rund 100.000 Arbeitsplätze. Derzeit baut der Elektro-Multi Siemens in Newcastle eine Chipfabrik.

Hauptgrund des Investitionsbooms der Ausländer: Britische Arbeitnehmer verdienen deutlich weniger als ihre Kollegen in anderen westeuropäischen Ländern. Die Arbeitskosten liegen mit durchschnittlich 22 Mark pro Stunde halb so hoch wie etwa in Deutschland. Die Lohnkosten erreichen mit 15,75 Mark zwei Drittel, die Lohnnebenkosten mit 6,31 Mark gerade ein Drittel der deutschen.

Britische Beschäftigte haben weniger Urlaub als deutsche, kennen keinen Mindestlohn und arbeiten länger. Und, besonders beliebt bei ausländischen Firmen: Die Macht der Gewerkschaften ist gering, sie schwindet weiter.

„Thatcherismus“ bedeutete wirtschaftlicher Aufschwung auf Kosten eines radikalen Abbaus des Sozialstaates. An die Stelle des bis dahin von Briten traditionell praktizierten Gemeinsinns trat eine Ellbogengesellschaft, deren innerer Zusammenhang stärker denn je gefährdet ist…

Doch eine hohe Inflationsrate, der Kursverfall des Pfundes, steigende Zinsen sowie das stetig wachsende Heer von Arbeitslosen setzten Maggies Boomjahren ein jähes Ende.

Als sie verbittert und uneinsichtig zurücktrat, hinterließ Thatcher die Trümmer ihres Wirtschafts- und Wertesystems, vor allem eine klaffende Lücke zwischen Arm und Reich, wie sie sich seit der industriellen Revolution nicht mehr aufgetan hatte. Ihre rabiaten Schnitte ins soziale Netz haben Millionen Briten, die sich früher stolz zum Mittelstand zählten und nun plötzlich die Kredite ihrer Eigenheime nicht mehr zahlen konnten, an den Rand der Gesellschaft gedrückt.

Die Folgen neoliberaler Politik kommen einem in Deutschland mittlerweile bekannt vor. Ungewohnt ist, dass ein neoliberales Kampfblatt wie der Spiegel damals noch über die Schattenseiten berichtete, und zwar auf eine Art, die indirekt vor jeder Nachahmung dieser Politik warnte. Ein paar Jahre später forderte der Spiegel Thatcherpolitik für Deutschland. Wäre interessant zu erfahren, wie es zu diesem Umschwung kam. Es hatte vermutlich mit neuem Personal zu tun. Gabor Steingart war einer der Rechtsaußenjournalisten, die Meinungsmache betrieben.

Interessant auch, wenn man sich die Folgen der Thatcher-Politik für die britische Wirtschaft anschaut (Grafik aus der Welt):

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Die Leistungsbilanz, also verkürzt gesagt das Verhältnis von Importen und Exporten, rutschte exakt mit dem Amtsantritt Thatchers in den negativen Bereich, obwohl ihre Politik die Wirtschaft doch konkurrenzfähiger machen sollte. Das hängt vermutlich mit der Deindustrialisierung Englands seit den 1980er Jahren zusammen. Die erfolgte trotz schwacher Gewerkschaften, niedriger Löhne, weniger Urlaubstage und so weiter. Oder vielleicht doch gerade deswegen?

So haben wir als Ergebnis eine Ellenbogengesellschaft und wirtschaftlichen Abstieg. Eine tolle Leistung.

Rückblicke sind oft entlarvend. In der heutigen rasanten Zeit reichen schon 20 Jahre, um sich verwundert die Augen zu reiben. Ein nettes Projekt, ein wenig Zeit vorausgesetzt, wäre eine Relektüre der neoliberalen Propagandaliteratur, die Anfang der Nuller Jahre den Markt überschwemmte, und ihre Bewertung. Steingarts „Abstieg eines Superstars“ fällt mir da ein und dass dieses Buch vor Lügen strotzt. Der Mann ist heute in der Geschäftsführung des Handelsblattes. Das Kapital lässt seine Propagandisten nicht im Regen stehen.

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10 Antworten zu Der Spiegel über die Folgen der Politik Margaret Thatchers

  1. walterfriedmann schreibt:

    Hat dies auf Europapolitik rebloggt und kommentierte:
    Neoliberaler Gesellschaftsumbau

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  2. Jakobiner schreibt:

    Das ohnehin schon sehr kapitalistische China ist manchen Neoliberalen immer noch zu wenig marktradiakl. Offenster Vertreter dieser Richtung: Der Starökonom und Hayek-Anhänger Andy Xie, eine Art chineischer Thatcherist, den die FAZ hochjubelt:

    „Das Gegenstück sind die Panda-Würger. Ihr Anführer ist Chinese und sitzt in Chinas Wirtschaftshauptstadt Schanghai. Sein Name: Andy Xie. Früher Chefökonom von Morgan Stanley in Asien, schreibt Xie mittlerweile seine ätzenden Analysen der chinesischen Wirtschaftspolitik auf eigene Rechnung als unabhängiger Geist, der neben einem scharfen Intellekt vor allem durch die Österreichische Denkschule Friedrich August von Hayeks geprägt ist.(…) Xie fordert vor allem Steuersenkungen in Höhe von 1 Billion Yuan (127 Milliarden Euro). Die Mehrwertsteuer müsse kräftig sinken, vor allem aber der Spitzensteuersatz von derzeit 45 auf 25 Prozent fallen. Die Beiträge zu den Sozialversicherungen will Xie gleich um die Hälfte kappen.
    Diese Forderungen sind nicht im akademischen Elfenbeinturm geboren: jeder Chinese aus der Mittel- oder Oberschicht weiß ein Lied von der hohen Steuer- und Abgabenbelastung zu singen. Ob Immobilienentwickler, Makler oder Architekten – bei allen ist der Ärger gewaltig groß. Teilweise müssen bis zu zwei Drittel der Bruttoeinkünfte an den Staat abgeführt werden. “

    http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/fruehaufsteher/wirtschaftspolitik-in-der-kritik-der-chinesische-panda-wuerger-13170626.html

    Auch interessant: Die Demokratiebewegung in Hongkong wiederum wird auch nur unter dem Aspekt gesehen, ob sie dem Finanzplatz nützt oder nicht oder wie es in der FAZ heißt:

    „Es geht nicht um Moral, sondern um die eigene Investition“

    http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/hongkong-bebt-die-wirtschaft-kuscht-13180797.html

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  3. genova68 schreibt:

    China ist für mich leider ein Buch mit sieben Siegeln. Nie dagewesen, keine Ahnung von deren Geschichte. Auffällig ist heute deren kitschiger Geschmack und das Verhältnis reicher Chinesen zu deutschen Outlet Stores.

    Hayek-Verehrer: vermutlich gibt es die überall, es gibt überall Leute, die auf die Verlockungen der Marktradikalen eingehen, vielleicht, weil es Soziopathen sind, deren eigene Denke mit Abschaffung von Gesellschaft korrespondiert.

    Danke für die Infos.

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  4. El_Mocho schreibt:

    Sicher eine korrekte Analyse. Interessant ist immer wieder, wie mit dem Voranschreiten des Neoliberalismus Rassismus, Homophobie und Sexismus mehr und mehr in den Mittelpunkt der politischen Diskussion geraten und die materielle Ungleichheit immer mehr in den Hintergrund tritt.

    In England ist das besonders deutlich. S. auch hier:

    „Owen Jones berichtet von Krisenzentren inmitten der Welt des Wohlstands, von der wachsenden Armut und der Verzweiflung ganzer Gemeinden, deren Lage durch wirtschaftliche und soziale Verschiebungen immer prekärer wird, während die große Politik, von rechts wie von links bestimmt vom Neoliberalismus und Opportunismus, sie aufgegeben hat.
    Das ‚Proll‘-Stereotyp, so Owen Jones, wird von Politik und Medien benutzt, um die Notwendigkeit realer Veränderungen zu verdecken und die wachsende soziale Ungleichheit zu rechtfertigen.“

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  5. Jakobiner schreibt:

    Zu El Mocho:

    Die nicht nur semantische Liquidierung von Klassenbewusstsein: Keiner will ein Arbeiter= “Nigger” sein

    Auffällig ist, dass die heutigen Zeiten mehr denn je nahelegen würden wieder in Klassenkategorien zu denken und zu handeln angesichts der gesellschaftlichen Polarisierung zwischen arm und reich, angesichts der gesellschaftlichen Reichtumsumverteilung, die keine Illusion mehr aufkommen lassen kann, man könnte noch zur sozialpartnerschaftlichen BRD der 7oer Jahre zurückkehren. Doch inzwischen ist das Klassenbewusstsein völlig atomisiert, die Gewerkschaften völlig geschwächt, eine Linkspartei findet sich im Verfassungsschutzbericht wieder und daher hat sich auch ein neoliberaler Sprachgebrauch eingeschlichen, der von Gesellschafts und Sprachwissenschaftlern nirgends kritisiert oder analysiert, sondern als gottgegeben reproduziert wird.Aber eben nicht nur von Geisteswissenschaftlern, sondern von der Arbeiterklasse, die keine mehr sein will, selbst.Die völlige Tilgung von Klassenbewusstsein zeigt sich nicht nur in der verbalen Streichung von Klassenkampf, Klasse, etc., sondern vor allem in der New Speak über die Arbeiterklasse: Arbeiter will keiner mehr sein, denn das ist inzwischen auf der Stufe von “Nigger”. Alle Welt betrachtet sich als Mittelschicht, Lohnabhängiger (aber selbst dies Wort wird inzwischen gemieden, da es doch die Herrschaftsverhältnisse noch zu klar beschreibt), aber vor allem als Arbeitnehmer. Ein interessantes Wortspiel: Der Arbeitnehmer NIMMT–ganz egoistisch- Arbeit, der Arbeitgeber GIBT–ganz spendabel und generös. Ein Geben und Nehmen eben. Arbeitslose definieren sich um in Freischaffende, Hausmeister und Sekretärinnen in Facility Manager und Assistent Manager, Familienmütter als Family Manager, etc. Und dann nicht vergessen: Die ICH-AG–die wohl weitreichendste Wortschöpfung der Agenda 2010. Keiner will Arbeiter sein, alle wollen irgendwie Manager und Freigeister sein.Die Altersarmut mit einhergehendem Suizid wird sie frühestenfalls von einem besseren belehren. Bestenfalls wird noch vom arbeitslosen Prekariat gesprochen, von bildungsfernen Schichten, aber eben nur um sich abzugrenzen und sozialdarwinistisch darin den Feind zu sehen. Doch so weit ist das Prekariat gar nicht: Wenn Familienministerin Leyen vor Altersarmut warnt, Arbeiter mit über 35 Jahre Beitragszahlung bei einem Lohn von 2500 Euro als Rente nur Sozialhilfe rausbekommen und dazu noch gesagt wird, dass dies ein Drittel der Beschäftigten sei, so wird klar, dass das Prekariat schon morgen um die Ecke lauert.Zumal alles dafür spricht, dass der jetzige Sozialstaat weiter abgebaut und in den nächsten 2 Jahrzehnten nicht mehr existieren und der Niedriglohnsektor zügig weiter ausgebaut wird (nach der Agenda 2010, die den Niedriglohnsektor von 10% der Beschäftigten auf 22 % , das heisst 1/5 der Beschäftigten ausgeweitet hat und nun eine Agenda 2020 und sogar von Schröder eine Agenda 2030 gefordert wird, der dann den Niedriglohnanteil auf 30-40% weiter steigen lässt), ist wohl klar, dass die darüberliegedne Schicht ebenso nur absteigende Arbeiterklasse sein wird. Aber bevor man sich als Arbeiterklasse bezeichnet und somit als „Nigger“ werden die meisten Menschen lieber selbstschuldig in sich gehen oder aber sich umbringen vor eingebildeter Schande und Angst vor Stigmatisierung.

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  6. genova68 schreibt:

    El Mocho,
    stimmt sicher alles und das Buch könnte man lesen. Aber du bist wieder bei deinem Lieblingsthema: Unterprivilegierte gegeneinander ausspielen. Wieso eigentlich? Wieso kann man nicht einmal konstatieren, dass es eine unsoziale neoliberale Politik gibt ohne gleichzeitig darauf zu verweisen, dass jetzt Homosexuellen und Ausländern mehr Aufmerksamkeit zuteil wird, wo ja immer auch mitklingt, dass Letztgenannte jetzt die Aufmerksamkeit bekommen, die eigentlich die Prolls kriegen müssten. Dass es also offenbar nur eine begrenzte Menge an Aufmerksamkeit gibt, die sich die Unterprivilegierten teilen müssen, um die sie streiten müssen.

    Der Text zu Owen, den du hier bringst, hat übrigens nichts mit deiner These zu tun. Der spielt die Unterprivilegierten gerade nicht gegeneinander aus.

    Ich würde dir zustimmen, wenn du das in Richtung Grüne adressierst, die eine entwürdigende Politik betrieben haben, trotz Gleichstellung. Aber eine Forderung nach sozialer Politik darf auf keinen Fall in anderen Bereichen rückschrittlich sein. Die Gefahren deswegen sind immens, da braucht man sich nur an einen Brandenburger Stammtisch zu setzen.

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  7. Jakobiner schreibt:

    „Die Leistungsbilanz, also verkürzt gesagt das Verhältnis von Importen und Exporten, rutschte exakt mit dem Amtsantritt Thatchers in den negativen Bereich, obwohl ihre Politik die Wirtschaft doch konkurrenzfähiger machen sollte. Das hängt vermutlich mit der Deindustrialisierung Englands seit den 1980er Jahren zusammen.“

    Die gezeigte Graphik zeigt aber nicht die Leistungsbilanz, sondern nur das Verhältnis von Leistungsbilanz zum BIP–dieses VERHÄLTNIS sank, aber möglicherweise eben gerade, weil sich das BIP erhöhte.Genova sieht aber nur die Graphik, dass eine Kurve runtergeht und schließt daraus: „Niedergang“.Falls das BIP aber gestiegen ist, dann wäre dies eher ein Zeichen für einen Aufschwung.

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  8. genova68 schreibt:

    Jakobiner,
    stimmt, es wäre möglich, dass das BIP sich überproportional erhöhte. Ich finde bei der Friedrich-Ebert-Stiftung folgende Zahlen:

    „So wuchs das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Großbritannien zwischen 1979 und 1990 um ca. 27 und in der Bundesrepublik um ca. 26 Prozent.“

    http://library.fes.de/fulltext/stabsabteilung/00843.htm

    Also praktisch Gleichstand. Die Handelsbilanz Deutschlands betrug 1980 4,6 Milliarden Euro und stieg bis 1989 (1990 wegen erweitertem Deutschland nicht vergleichbar) auf 68,8 Milliarden, also alles Überschüsse. Es ist wohl ziemlich unwahrscheinlich, dass man aus diesem Zahlensalat zu dem Ergebnis kommt, dass das Leistungsbilanzdefizit von GB daherrührte, dass die Binnenkonjunktur phänomenal anzog.

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  9. Jakobiner schreibt:

    Zu Genova:

    „Also praktisch Gleichstand.“

    Das ist ja nicht der Punkt. Wenn du den Thatcherismus mit der deutschen Entwicklung vergleichst, kann man sagen, dass sie bei der alleinigen Betrachtung des BIPs gleiche Resultate erzielten. Also auch eine sozialstaatliches Deutschland mit dem Thatcherismus mithalten konnte.
    Aber erstens: Das BIP ist dann auch kein zuverlässiger Indikator, da man andere Indikatoren bräuchte um zu zeigen, dass das deutsche Modell angeblich humaner als der Thatcherismus war. Zum zweiten muss man die BIP-Entwicklung Deutschlands und GBs vor der Zeit Thatchers betrachten. Und da war GB nun einmal in einer absoluten Stagnation und Wirtschaftskrise–anders als Deutschland. Der Thatcherismus war ja gerade eine Reaktion auf die britische Malaise und scheint eben das BIP dann eben mit Deutschland gleich gesteiegert zu haben nach Jahren der Stagnation und des Niedergangs.

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  10. Jakobiner schreibt:

    Zu Genova:

    Zum anderen muss man sehen, dass das GB vor Thatcher ein semisozialistischer Staat unter Labour war während Deutschland die Sozialpartnerschaft hatte, also gegenüber Labour-GB fast schon neoliberal erschien.Da hat dann Thatcher gleichgezogen.SCjhröder hat dann wiederum mit der Agenda 2010 „gleichgezogen“–und die Logik scheint zu sein, dass man immer „gleichziehen m“muss. Wenn du also etwas kritisieren solltest, wäre es eher die Gleichziehungsspirale- und dynamik der Globalisierung als nur die Thatcher abzuwatschen.Grundsätzlich stellt sich die Frage: Führt die Globalisierung zu einer Abwärtsspirale wie in dem Buch „Globalisierungsfalle“zu lesen oder nicht etwa zu Wohlstandsgewinnen, die auch die Situation der Ärmsten zwar nicht relativ, aber eben absolut nach oben bringen?

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