Die Interessen der Allgemeinheit

„Die Tatsache, daß der Grund und Boden unvermehrbar ist, verbietet es, seine Nutzung dem unübersehbaren Spiel der freien Kräfte und dem Belieben des Einzelnen vollständig zu überlassen; eine gerechte Rechts- und Gesellschaftsordnung zwingt vielmehr dazu, die Interessen der Allgemeinheit beim Boden in weit stärkerem Maße zur Geltung zu bringen als bei anderen Vermögensgütern“

BVerfG 21, 73 [82 f] – Grundstücksverkehr, Bundesverfassungsgericht, Urteil aus dem Jahr 1967, gefunden bei Umdenken.

Was die Interessen der Allgemeinheit beim Boden im Kapitalismus wert sind, sieht man derzeit an der Gentrifizierung. Aber bemerkenswert, dass Bundesverfassungsrichter vor 45 Jahren noch quasi sozialistisch argumentierten. Und ein weiterer Beleg dafür, dass Kapitalismus und Grundgesetz oder gar Demokratie nicht vereinbar sind. Das aus PR-Sicht Geniale ist die psychologische Beeinflussung in unserer Gesellschaft, die festgelegt hat, dass eben dieser Unvereinbarkeitssatz als linksradikal oder linksextrem gilt. Dabei ist er fast schon banal.

Orwell war ein Stümper.

079(Foto: genova 2013)

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9 Antworten zu Die Interessen der Allgemeinheit

  1. Jakobiner schreibt:

    Gentrifizierung gab es schon immer, auch schon bevor dieser Modebegriff neuerdings eingeführt wurde.Es gab die sogenannte Gentrifizierung auch schon im Kaiserreich, in der Weimarer Republik, im 3. Reich, in der alten BRD und nun auch heute.Es gab dieses Phänomen auch schon vor dem sogenannten Neoliberalismus und zwar weltweit–mit Ausnahme der kommunistischen Staaten.Die Frage wäre denn, wie man dem enteggensteuern kann. Mietpreisdeckelung, Mietpreiszuschüsse, Auflagen für Neubauten, Ausweisung neuen Baugebiets, weitere Verdichtung, Hochhausbau, Förderung des Eigenheims ala England und den USA.Letzteres ist auch nicht ohne Probleme–siehe Subprimekrise.In anglosächsischen Länder gibt es mehr Hauseigentümer, dort wird der Besitz eines mietfreien Eigenheims als der eigentliche Sozialstaat verstanden.Das führte dann aber auch dazu, dass jedem nicht liquiden Häuslebauer die Kredite nachgeworfen wurde und die Finanzkrise dadurch erst richtig gut entstehen konnte.

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  2. Jakobiner schreibt:

    Noch vergessen: Wie steht es mit dem sozialen Wohnungsbau? Der wurde ja seit den 60er Jahren immer weiter zurückgefahren.
    Ganz interessant auch der Wikipediaeintrag zu Gentrifizierung:

    http://de.wikipedia.org/wiki/Gentrifizierung

    „Der Soziologe Andrej Holm kritisiert, dass der Begriff in öffentlichen Auseinandersetzungen als inflationäre Universalmetapher gebraucht werde. Laut dem Soziologen Hartmut Häußermann ist der Begriff zu einem „politische[n] Kampfbegriff“ geworden, der ohne fundierte Belege eingesetzt werde.(…)
    Nach der Theorie vom „doppelten“ Invasions-Sukzessions-Zyklus
    stellen bereits die Studenten und Künstler die ersten „Invasoren“ dar. Sie verdrängen andere soziale Gruppen und schaffen ein neuartiges soziales Milieu, das besser in Wert gesetzt werden kann (Sanierungen) und damit das Umfeld zur zweiten „Invasorenwelle“, den sogenannten „Gentrifiers“, schafft. Wechselwirkung von Bohème und Bourgeoisie
    Aufgrund ihrer spezifischen Mobilität, ihrer oft geringeren finanziellen Möglichkeiten, ihrer Akzeptanz oder Vorliebe für urbane, benachteiligte und ungewöhnliche Orte, ihrer Kreativität, eines Gespürs für Trends und eines ausgeprägteren Bedürfnisses zur innovativen Selbststilisierung sind Künstler, Studenten, Homosexuelle Jugendliche und junge Erwachsene („Hipster“) oft wichtige Vorboten und Pioniere einer Gentrifizierung. Sie „entdecken“, nutzen und prägen im Sinne einer angesagten Location der Jugendkultur, als einen Ort der Bohème oder der alternativen Szene die potenziellen Gentrifizierungsstandorte auf einem niedrigen Preisniveau um. Damit werden diese Räume für weitere, einkommensstärkere Gruppen als Wohn-, Freizeit- und Gewerbestandorte attraktiv.
    Homosexuelle Männer werden aufgrund des ihnen zugeschriebenen Lebensstils und ihrer Wohnortpräferenzen zu den gentrifiers gezählt.“

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  3. Jakobiner schreibt:

    In diesem Zusammenhang auch noch interessant: Richartd Florida über die Kreative Klasse als Vorbote der Gentrifizierung oder „Warum Städte ohne Rockbands und Schwule ökonomisch verlieren“:

    http://www.washingtonmonthly.com/features/2001/0205.florida.html

    Mir kommt das wie im Tourismus vor: Erst entdecken die Indiviadulatouritsen, Backbacker und Alternativtouristen entlegene und interessante Orte fern des Tourismus, dann folgen Neckermann, Hotelresort, Kulturindustrie und das Tourismus-Big-Business.-

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  4. walterfriedmann schreibt:

    Hat dies auf Forum Politik rebloggt und kommentierte:
    Die Interessen der Allgemeinheit

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  5. genova68 schreibt:

    Die Gründe für Gentrifizierung, die in den Kommentaren hier genannt werden, sind die einer typisch bürgerlichen Sichtweise, die gemeinhin zu Dummheit führt. Nicht der Schwule ist für Gentrifzieriung verantwortlich, nicht der Künstler, sondern alleinig die Möglichkeit, Bodenpreise dem Markt zu überlassen. Und dann auch noch einem Markt, der im Kapitalismus nicht funktioniert, den es nie gegeben hat.

    Es ist meines Erachtens das Niveau von Zeit und Tagesspiegel, die Gründe für die Gentrifizierung irgendwelchen Randgruppen unterzuschieben und das dann intensiv zu diskutieren.

    Massentourismus ist ein anderes Phänomen, weil dort arme Regionen unter Umständen zu Geld kommen können. Siehe Benidorm oder Ischgl.

    Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts enthält ja den Hinweis auf die Interessen der Allgemeinheit und sagt klar, dass wir keine gerechte Rechts- und Gesellschaftsordnung haben. Diese Feststellung wird via Diskussionen über Künstler und Schwule nur verwässert.

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  6. Jakobiner schreibt:

    Ja, das ist mir auch aufgefallen, dass hier Subkulturen und Homosexuelle quasi für die Gentrifizierung verantwortlich gemacht, fast als Sündenböcke und „Invasoren“ausgemacht werden.Das könnte man auch so verstehen: Keine Schwulen im Viertel, ergo: keine Gentrifizierung.Fraglich, warum auf dem Wikipediabeitrag da kein kritischer und konträr argumentativer Beitrag kommt, sondern das so unkommentiert stehen gelassen wird.
    Kritik an dem Wirtschaftssystem oder die Forderungen nach Regulierungen tauchen, mit Ausnahme einer ganz kurzen Passage, die für sozialen Wohnungsbau plädiert, in dem ellenlangen Elaborat gar nicht auf.
    Man hat fast den Eindruck hier hätte eine Immobiliengesellschaft den Text geschrieben, bzw. redigiert.

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  7. genova68 schreibt:

    Ja. Der Gentrifizierungs-Artikel bei wikipedia beschreibt das Phänomen nur innersystemisch. Sicher hat der Künstler in Neukölln etwas mit Mietsteigerungen zu tun. Aber ihm eine Schuld zu geben, wäre fatal. Man kann Gentrifizierung nur verstehen, wenn man den Kapitalismus im Auge behält.

    Diese Definition ist nicht falsch, führt aber nur zu einem Teilschritt, bei dem man nicht stehenbleiben darf:

    Eine Gentrifizierung im engeren Sinne zeichnet sich nach Jürgen Friedrichs durch den Austausch einer statusniedrigeren durch eine statushöhere Bevölkerung aus. Nach Andrej Holm gehören dazu wesentliche Änderungen des Nachbarschaftsmilieus und der nachbarschaftlichen Beziehungen. Dabei geht es um die soziokulturellen und immobilienwirtschaftlichen Veränderungen in ursprünglich preisgünstigen Stadtvierteln, in denen Immobilien zunehmend von wohlhabenderen Eigentümern und Mietern belegt und baulich aufgewertet werden. Bewohner mit einem niedrigeren Sozialstatus werden ersetzt oder verdrängt.

    Interessanter scheinen die Aktivitäten kritischer Geographen zu sein, siehe auch meine Blogroll. Neil Smith, der bei Wikipedia genannt wird, oder David Harvey, ein Marxist, kommen naturgemäß in der Analyse weiter und betonen den ökonomischen Aspekt der Sache.

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  8. Jakobiner schreibt:

    Das Leben und der Wandel des Lebensstil in einem gentrifizierten Block wird von Materia in „Kids“ganz gut dargestellt:

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  9. genova68 schreibt:

    Cooler Text. Jeder ist jetzt Zahnarzt, keiner ist mehr Gangster. Keiner fährt nach Malle, alle fahrn nach Schweden :-)

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