Kurz was zur kapitalistischen Alltagskorruption in Berlin

Im gentrifizierten Rosenthaler Kiez in Berlin-Mitte schließt gerade der letzte Lebensmittelladen, berichtet der Tagesspiegel:

Der Mietvertrag von Inhaberin Do Xuan Quang wurde gekündigt. Wie es nach der Sanierung weitergeht, ist ungewiss. Die Sprecherin der städtischen Wohnungsbaugesellschaft Mitte (WBM) teilt mit, dass anschließend ein neues Mietverhältnis begründet werde. Der Marktpreis für die Gewerberäume an der Rosenthaler Straße 11 werde nach der Sanierung bei 40 bis 60 Euro pro Quadratmeter netto kalt liegen. Bisher waren es zehn Euro. Für Maik Seibert, 35, der das „Curry Mitte“ am Rosenthaler Platz betreibt und fast täglich bei Familie Quang einkauft, ist klar, dass der Mini-Markt dann keine Chance mehr hat. „Solche Mieten kann sich kein kleiner Laden leisten.“ Ein älterer Kunde, der jeden Tag mehrmals im Mini-Markt einkauft, ist sich sicher, dass hier bald eine Galerie oder Boutique einzieht. (Hervorhebung von genova)

Bemerkenswert ist, dass hier kein privater Eigentümer die Mieten um 400 bis 600 Prozent erhöht, sondern eine städtische Wohnungsbaugesellschaft, genauer gesagt: ein landeseigenes Wohnungsunternehmen.

Auf ihrer Website schreibt die WBM:

„Seit Jahrzehnten gestaltet die WBM GmbH aktiv ihre Quartiere und agiert nachhaltig in Bezug auf die Stadt, ihre Bevölkerung und die Umwelt. Gesellschaftliche und kulturelle Werte werden großgeschrieben … Sich für andere einzusetzen, die Hilfe benötigen, ist für den WBM-Konzern ein klarer Unternehmensauftrag. Deshalb macht er mit vielen Aktionen auf Schwächere aufmerksam.“

Ein schöner Text, und so wahr: Die WBM gestaltet mit Mieterhöhungen von 600 Prozent in der Tat „aktiv“ das Quartier und schreibt den „gesellschaftlichen Wert“ der Profitmaximierung um jeden Preis ganz groß. Auf Schwächere hat sie nun via Tagesspiegel auch aufmerksam gemacht. Die WBM scheint nur ein kleines Identitätsproblem zu haben: Die Anderen, die Hilfe benötigen und sie von der WBM bekommen, sind sie selbst. Eine Renditeerhöhung von 600 Prozent ist sozusagen Hilfe zur Selbsthilfe. Ist ja auch was Tolles. Man kann verallgemeinert sagen, dass es das Kapital ist, das dringend Hilfe benötigt, sonst muss es sich noch wohl noch mit zehn Euro kalt abfinden, wo doch 60 Euro drin sind. Die staatlichen Stellen stehen bereit.

Zum Thema „gesellschaftliches Engagement“ finden sich auf der WBM-Website solch skurrile Veranstaltungen wie die vom März 2012:

Theaterstück für unsere großen und kleinen Mieter: „Ein Ort zum Glück“, eine heitere, skurrile Geschichte über das Wohnen.

Vielleicht aktualisieren sie das Stück jetzt und lassen die Noch-Ladeninhaberin Do Xuan Quang mitspielen.

Es ist ein weiteres schönes Beispiel für die einsetzende Korruptheit dieses Gemeinwesens genau dann, wenn es um die Kapitalrendite geht. Der Staat als erster Diener des Kapitals im Neoliberalismus.

Schauen wir uns noch kurz diese Wohnungsbaugesellschaft an, in der naturgemäß waschechte Sozialdemokraten arbeiten: Aufsichtsratsvorsitzender der WBM ist Jürgen Heyer von der SPD, früher Verkehrsminister in Sachsen-Anhalt. Ich schätze, er brauchte eine Anschlussverwendung. Im Aufsichtsrat sitzt unter anderem die tolle Regula Lüscher, seit 2007 auf SPD-Ticket in Berlin Senatsbaudirektorin und von Haus aus Architektin. Sie bekam ihren Senatsposten aufgrund ihrer „fachlichen Kompetenz“.

Auch das ist wahr: Ihre fachliche Kompetenz bezieht sich vermutlich auf ihre Raffinesse, die Kapitalakkumulation zügig voranzutreiben. Außerdem sitzen im Aufsichtsrat noch drei „Arbeitnehmervertreter“. Vielleicht lassen sie einfach gerne das „ver“ weg.

Wir lesen halt diese Texte nur falsch.

Es ist eine der vielen Kriegserklärungen an die eigene Bevölkerung. Klassenkampf von oben, der, und das macht die Effizienz dieser Barbarei aus, nicht mit Klassenkampf von unten beantwortet wird.

Eigentlich erstaunt mich politisch selten noch etwas. Manchmal aber dann doch.

P.S.: Vorgestern ist direkt in der Nachbarschaft des Ladens, der schließen wird, die Kastanienallee nach der Renovierung freigegeben worden. Es gibt dort nun Parktaschen und „Lane Lights“, also LED-Leuchten im Boden. Verantwortlich dafür ist der grüne Baustadtrat Jens-Holger Kirchner. Die richtigen Worte für diese Aktion findet lustigerweise der Loveparadeerfinder und Anwohner Dr. Motte: Er hält Kirchner „für einen Komplizen der internationalen Baulobby“ und die Leuchten für „Scheiße“.

Vermutlich sind die richtigen Vokabeln. Nicht nur für Kirchner.

063(Foto: genova 2012)

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7 Antworten zu Kurz was zur kapitalistischen Alltagskorruption in Berlin

  1. tikerscherk schreibt:

    Immer wenn ich bei solchen Texten „gefällt mir“ klicke, denke ich: gefällt mir nicht. Aber das weisst du ja sicher.

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  2. genova68 schreibt:

    :-)
    Ja, ich weiß.

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  3. MondoPrinte schreibt:

    Geht mir genau so…

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  4. besucher schreibt:

    Solang die Lane Lights zu 100% aus Wind- Solar- oder Kuhpupsenergie stammen ist für die Grünen alles im Lot.

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  5. meckthepirat@laposte.net schreibt:

    Na, wieder den Vogel abgeschossen im Kampf um die Deutungshoheit? Der kopflosen Auswurf des selbsternannten Doktors im Zusammenhang mit dem Umbau der Kastanienallee zu präsentieren ist wie das Wiederkäuen von Erbrochenem. Der Umbau der Kastanienallee war gut und richtig! Alles andere ist egomanischer Strukturkonservatismus!

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  6. genova68 schreibt:

    Ok, jetzt wissen wir Bescheid.

    Grüß dich, Mondoprinte. Ein seltener, aber gern gesehener Kommentator.

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  7. walterfriedmann schreibt:

    Hat dies auf Forum Politik rebloggt und kommentierte:
    Der Staat als erster Diener des Kapitals im Neoliberalismus

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