Neues von der deutschen Idiotie

Der EZB-Chef Mario Draghi hielt kürzlich bei einem Treffen der EU-Regierungschefs in Brüssel einen Vortrag. Quintessenz: In Spanien, Italien und Frankreich sind die Löhne zu hoch, in Deutschland ist alles in Ordnung. Mein Lieblingsjournalist Harald Schumann in einem sehr lesenswerten Artikel im Tagesspiegel über das Niveau, das dort herrschte:

Und damit es auch jeder verstand, hatte er Schaubilder verteilen lassen: Da standen bei den Verliererländern steil in die Höhe schießende Lohnkurven über nur leicht steigenden Linien für den Fortschritt bei der Produktivität. Bei Deutschland dagegen liefen auf seinem Bild beide Linien bis zur Finanzkrise annähernd parallel.

Draghis Grafiken waren ein plumper Trick, und Hollande hätte allen Grund gehabt, zu widersprechen. Der vermeintlich unpolitische Zentralbanker hatte Äpfel mit Birnen verglichen. Der Ökonom Andrew Watt vom Düsseldorfer Institut für Makroökonomie erkannte den „schwerwiegenden Fehler“ beim Blick auf die von der EZB veröffentlichten Grafiken sofort. Da waren die Werte für die Produktivität real berechnet, also nach Abzug der Inflation. Die Daten für die Lohnentwicklung dagegen hatte sich Draghi nominal auftragen lassen, ohne die Geldentwertung zu berechnen – ein grober Schnitzer, mit dem jeder Wirtschaftsstudent durchs Examen fallen würde…

Unfreiwillig offenbarte Draghi so die ideologische Wucht, mit der er gemeinsam mit der Merkel-Regierung in ganz Euroland eine Politik durchsetzt, welche die Umverteilung der Einkommen von unten nach oben zur obersten Maxime erhebt.

Durchs Examen fallen kann man ja nur, wenn die Prüfer ihren Job seriös erledigen. Die Prüfer existieren hier aber nur in Form des Kapitals, dem es zupass kommt, wenn ihr Vorturner die Rechnung zu Gunsten jener manipuliert. Warum sollten die so einen nützlichen Mann durchfallen lassen?

Ich stelle mir das auch bildlich vor: Da sitzen alle Regierungschefs der EU-Länder, hören sich den Vortrag an, schauen auf die Schaubilder, trinken Kaffee: Die Elite der Elite der wichtigsten europäischen Länder; und keinem fällt dieser billige Trick auf. Das sind in etwa dieselben Leute, die vor zehn, fünfzehn Jahren den Euro einführten, dessen Auswirkungen sie jetzt beklagen. Andererseits: Hat diese Politik etwas mit Sachverstand zu tun? Kann man mit solchen Begriffen hier überhaupt operieren?

Ich glaube schon: Der Sachverstand dieser Leute ist ausgeprägt. Es ist nur die Frage, welches Ziel man hat. Die EU-Regierungschefs haben sich seit langem der Politik der Kapitalförderung verschrieben, die gesamte EU-Politik spätestens seit 1990 läuft darauf hinaus. Die Armen werden ärmer und die Reichen werden reicher, das ist das nichterklärte, aber umso deutlicher vertretene Ziel dieser Leute, zumindest der meisten. Vielleicht hat Hollande wirklich anderes vor, wer weiß. Die EU-Regierungschefs erledigen ihre Aufgabe aber, vielleicht bis auf ein paar Ausnahmen, sehr gut.

Deutschland spielt die gewohnte Sonderwegsrolle, die entweder militärisch oder ökonomisch von Aggressivität geprägt ist. Derzeit vor allem ökonomisch. Die eigentliche Katastrophe derzeit ist die Rolle Deutschlands in Europa. Nicht Griechenland, nicht Portugal, nicht Spanien, nicht Italien. Selbst Frankreich, die von allen Euroländern seit Einführung sich am konsequentesten an die Absprachen gehalten hatte (Inflationsziel, Außenhandelsbilanz, Lohnentwicklung), wird nun in die Zange genommen. Mit Billigung von Angela Merkel, die die deutsche Idiotie zuverlässig repräsentiert.

Noch einmal Schumann:

Alle Eurostaaten sollen sich am deutschen Modell orientieren und so lange die Löhne und die Staatsausgaben senken, bis sie die von Merkel geforderte „Wettbewerbsfähigkeit“ erreichen. Das entspricht dem von der Bundesregierung und ihren medialen Wasserträgern gepflegten Bild vom erfolgreichen Wirtschaftsriesen Deutschland, der sich nach den „schmerzhaften“ Reformen der „Agenda 2010“ von „verkrusteten Strukturen“ befreit hat und deshalb sowohl die Arbeitslosigkeit als auch das Staatsdefizit erheblich senken konnte.

Schmerzhafte Reformen und verkrustete Strukturen: kommen einem bekannt vor, diese Floskeln. Das kann man den Deutschen auch ganz gut verkaufen, dann nur wenns weh tut, ist die Medizin gut. Da haben Luther, die ostelbischen Junker, die geopolitische Mittellage und schließlich Hitler ganze Arbeit geleistet. Über Generationen. Die Schatten sind lang.

216(Foto: genova 2012)

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4 Antworten zu Neues von der deutschen Idiotie

  1. Jakobiner schreibt:

    „In Spanien, Italien und Frankreich sind die Löhne zu hoch, in Deutschland ist alles in Ordnung.“ In FAZ, WELT, SZ wird inzwischen aber auch schon über das hohe Lohnniveau Deutschlands gejammert, das weit über dem EU-Durchschnitt liege.Da werden Lohnkürzungen in der Zukunft wojhl auch in Deutschland gefordert werden. Wohlgemerkt, dies ist der Preis, wenn man im Euro bleiben will.Ohne Euro, mit nationaler Währung könnten die Schuldenländer einfach abwerten und die Löhne und Renten blieben gleich.Im übrigen: Gegen Strukturrefomren vor allem eine Verwaltungsreform mit funktionierenden Finanzämtern ist auch nichts zu sagen.

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  2. genova68 schreibt:

    Ja, die Diskussionen wiederholen sich. Es wird nun die gleiche Platte wie um 2002 angestimmt, das Kapital scharrt schon wieder mit den Hufen. Es ist auch unglaublich, welche Geschichtsklitterung derzeit stattfindet. Es ist derzeit gängige Erzählung, dass die Südländer vor zehn Jahren Reformen versäumt hätten und wir mit Agenda 2010 in Vorleistung getreten seien. Jetzt müssten die sie nachholen. Damals lief die Begründung genau umgekehrt: Die anderen sind alle viel besser als wir, deshalb müssen wir jetzt unbedingt reformieren.

    Man sieht an dieser Diskussion auch, wie sinnlos Journalismus in Deutschland in weiten Teilen geworden ist, mal ab von Lifestyle etc. Vielleicht stimmt es ja, dass Kapitalismus früher oder später in irgendeiner Weise in eine Form des Faschismus führt.

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  3. Debora Y. Gillespie schreibt:

    Wie diese Botschaft bei unseren Nachbarn ankommt, dürfte klar sein. Einen zentralen Blick sollte man zudem auf die Frage werfen, welches Recht Angela Merkel überhaupt beansprucht. Schon Brecht wusste, dass nur die dümmsten Kälber ihre Metzger selber wählen. Die deutschen Kälber mögen ziemlich dumm sein, anders lässt sich der fortwährende Erfolg Merkels nicht erklären. Aber dafür können unsere Nachbarn ja nichts. Europa ist kein deutsches Protektorat, sondern ein Zusammenschluss souveräner Staaten und die deutsche Kanzlerin hat kein Mandat, anderen souveränen Staaten ihre Politik zu diktieren – Eurokrise hin, Eurokrise her. Wenn sie jedoch den Anspruch erhebt, in Europa eine „sehr proaktive Rolle zu spielen“, wie es als Zeichen der Kapitulation des Verstandes vor der sprachlichen Verwirrung auf den Internetseiten der Kanzlerin geschrieben steht, hat die deutsche Kanzlerin nicht einmal im Ansatz verstanden, was Demokratie eigentlich heißt.

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