Zwei Bemerkungen zu den jüngsten Erfolgen der Grünen

Es wird hier meines Erachtens zweierlei deutlich. Erstens der, wie ich aus meiner begrenzten Perspektive glaube, typisch deutsche (vielleicht nicht nur typisch deutsche) Hang, Ökologie als Ersatzreligion zu betrachten, und zwar auf Kosten des Sozialen. Umwelt gegen Mensch. Zweitens der Erfolg der neoliberalen Ideologie. Hirne und Herzen sind verwirrt und deshalb verunsichert.

Zu Punkt eins: Der Erfolg der Grünen bedeutet mitnichten eine Stärkung des sozialen gesellschaftlichen Gewissens. Das Soziale wird ersetzt durchs Ökologische, oder auch nur durchs Pseudo-Ökologische. In Berlin beispielsweise kümmert man sich derzeit mit Hingabe um die prognostizierten Folgen der globalen Klimaveränderung für die Hauptstadt. Was sagen die Prognosen? Die Zahl der „tropischen Nächte“ (die Temperatur fällt nicht unter 20 Grad) steigt von heute fünf bis 2050 auf vielleicht acht. Pro Jahr. Die durchschnittliche Jahrestemperatur steigt demnach von 10,5 Grad auf 12,5 Grad. Was folgt aus diesen doch eigentlich erfreulichen Vorhersagen für besorgte Ökos? Man fördert die Einrichtung von „Frischluftschneisen“, mehr „Grün“ und ähnlichem. Das in einer Stadt, in der es ca. 300 Tage im Jahr zu kalt ist und 65 Tage gerade richtig und in der es grünt, was das Zeug hält. Hier keimt es, wo man hinspuckt.

Die Klimaveränderung wird vielleicht katastrophale Auwirkungen haben auf Länder wie Bangladesh oder Sri Lanka oder die Seychellen. Aber nicht auf Berlin. Soziales Engagement wird ersetzt durch ökologische Phantasien. Und zwar, weil man diesen Ersatz WILL.

Und, viel schlimmer, in einer Stadt, in der JETZT, nicht in 40 Jahren, innerstädtisch die Mieten steigen, was das Zeug hält, arme Menschen vertrieben werden in baufällige Problemviertel in den Vorstädten; in einer Stadt, in der sogenannte Investoren von sonstwoher auf weitere gigantische Renditen auf dem sogenannten Wohnungsmarkt in den nächsten 20 Jahren spekulieren. Das Kapital hebt derzeit die Berliner Mietpreise auf das Niveau von London oder Paris, der soziale Sprengstoff von dort wird, ebenfalls mit sozialdemokratischer Hilfe, in den Vorstädten gleich mitinstalliert, und das Gewissen des gehobenen deutschen Ökobürgertums sorgt sich um die Nachttemperaturen in 40 Jahren. Streng genommen sorgt man so dafür, dass das gehobene Bürgertum, das die Innenstädte dann vornehmlich okkupiert haben wird, nächtens nicht zu sehr schwitzt, während der Pöbel draußen in zugigen Betonsilos wohnt, dem das Thema zurecht völlig egal ist.

Es ist, um mal richtig auf die Pauke zu hauen, eine Form von Menschenfeindlichkeit, die sich da Bahn bricht. Es ist eine Variante der typisch deutschen Urbanitätsfeindschaft. Lieber schön romantisch zurück in die Natur, dahin, wo die Welt noch in Ordnung ist. Problemausländer gibt es da auch keine, und überhaupt: der ganze Lärm! Frischluftschneisen sind da willkommen: wieder ein bisschen weniger Stadt.

Punkt zwei: Diese Naturheinis betreiben das Geschäft des Neoliberalismus, wenn auch vielleicht ohne es zu wollen. Denn eine Gesellschaft ist nicht für beliebig viele Themen aufnahmefähig. Das Argument, man könne ja etwas für das Klima und etwas für die soziale Stadt machen, ist theoretisch in Ordnung, aber nicht praktikabel. Faktisch kümmern sich heute ungleich mehr Gruppen und Leute um Naturschutz, Umweltschutz und Klimaschutz in Berlin als um soziale Belange. Es ist Agendasetting im Sinne des Kapitals. Eine Demo gegen die Finanzkrise bringt 20.000 Leute auf die Beine, eine gegen Atomstrom 200.000. Nichts  gegen das Anti-AKW-Engagement, aber das ist halt einfach. Man wechselt zu Lichtblick, zahlt monatlich drei Euro mehr für den Strom, geht auf eine Demo und ist irgendwie vorn dabei im Ökobürger-Mainstream. Gegen kapitalistische Zumutungen auf die Straße zu gehen (und somit auch gegen die Ursachen des Betriebs von AKWs), überlässt man lieber irgendwelchen Linksradikalen. Nicht, dass man auf eine Pro-Kapitalismusdemo ginge, nee. Da ist man lieber indifferent. Besser unpolitisch. Aber ein Engagement gegen das Atom und für die Natur bringt eben mehr gesellschaftliches Prestige als klare linke Standpunkte. Ökologisches Engagement bringt mittlerweile das Lob des Kapitals. Denn da geht es nicht um Klassengegensätze, sondern um neue Renditemöglichkeiten. Die deutschen Ökodeppen fallen drauf rein bzw. sie checken nix.

Die Partei der Grünen ist die perfekte Wohlfühltruppe für diese Leute (IG mal ausgenommen ;-) ). Im Zweifelsfall tut man ein bisschen sozial, aber ansonsten Hauptsache ökologisch. Was auch immer genau das heißen mag. Es heißt oftmals: eine Politik des Unpolitischen. Die ernsthafte sozialpolitische Auseinandersetzung wird ersetzt durch kapitalintensivierte Ökologiepolitik.

So gesehen sind mir nach wie vor linke Gewerkschaftler oder einfach klassenbewusste Arbeiter, die in der Eckkneipe ihr Feierabendpils trinken und sich einen Scheiß um ihren CO2-Fußabdruck kümmern, tausendmal lieber als die Ökos, die mit ihren übertragenen Sorgen und ihrem komischen, lächerlichen Engagement für Öko-Berlin vor allem die eigenen Ängste übergrünen. Hauptsache: nicht zu heiß.

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31 Antworten zu Zwei Bemerkungen zu den jüngsten Erfolgen der Grünen

  1. Pewi schreibt:

    Und nicht zu vergessen – den Tierschutz. Wenn Kinder keine Perspektiven mehr haben, ist es egal, Hauptsache keinem Tier wird ein Haar oder eine Feder gekrümmt. Nungut, Fische haben keinen Kuschelfaktor, die werden in der Regel nicht einbezogen. Dabei ist Menschenschutz auch Tierschutz.

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  2. genova68 schreibt:

    Danke für den Degenhardt, Nihilist.

    Pewi,
    naja, Tierschutz ist schon eine andere Nummer als Frischluftschneisen in einer Stadt, die jetzt schon eine einzige Frischluftschneise ist. Da in der Massentierhaltung ziemlich vielen Tieren alles mögliche gekrümmt wird, würde ich das nicht gegen Kinderschutz ausspielen. Es geht um Lebewesen, das ist eine andere Nummer als die Pseudoromantikbesorgten. Aber ich denke, ich verstehe, worauf du hinauswillst.

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  3. Fishtank schreibt:

    Ein sehr guter Artikel, dem ich uneingeschränkt zustimmen kann.
    Warum kommt so ewas nicht in unseren Massenmedien?

    Über die „Ökobürger“ amüsiere ich mich nur noch. Diesen Aktionismus, gerade jetzt nach Japan, kann ich einfach nicht ernst nehmen. Wobei die Grünen den Japanern dankbar sein müssten. Ohne das Unglück und die irrationalen Ängste der Deutschen („passiert bei uns bestimmt auch“) keinen Wahlsieg.

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  4. Nihilist schreibt:

    Gern geschehen. Obwohl ich mich mal sehr über den Degenhardt geärgert habe. – Eines seiner Konzerte – in Bremen in der Glocke – ich als Lehrling habe damals meine Kröten zusammengekratzt (auch um mir damals seine LP zu kaufen) um dort rein zu kommen, saß irgendwo weit hinten. Vor der Glocke viele junge linke ohne Eintrittskarte und er lässt die zu sich auf die Bühne.

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  5. reinhardt schreibt:

    Schönes emotional-sachliches Post, regt zum Denken und Umdenken(?) an. Und spricht naturgemäß ein Riesenfass an Gegenstandsbereichen an…

    Das mit dem Ungleichgewicht: (über-)starke Betonung des Ökologischen gegenüber unfairer Gewichtung und damit Bewertung des Sozialen – ich empfinde es so, dass die Grünen zunächst eine Partei war, die sich wirklich nur und ausschließlich mit dem Thema Umwelt befasst hat. Hier waren sie versiert, aber auch für meinen Geschmack so manches Mal übers Ziel hinaus schießend. Aber wie auch anders? Vorbilder gab es fast keine – in einer Findungsphase ist das rechte Maß nicht immer sogleich zur Hand.

    Wie dem auch sei: Später, um Anerkennung als vollwertige :-) Partei zu erhalten, haben sich die Grünen noch ein Paket für sämtliche Belange der Politik und Gesellschaft hinzugenommen; Mitte der neunziger Jahre gingen diese Bemühungen so richtig los, würde ich meinen.

    Von daher empfinde ich das Wirtschafts-, Finanz- und Sozial-Paket der Grünen als ihrem Umweltprogramm nurmehr aufgesetzt, wenig stringent und sogar wenig authentisch: Die Partei Die Grünen ist besser zur Umwelt als zu den Belangen der Arbeiter und Angestellten. Plakativ: Die Grünen haben unter Schröder gerade im sozialen und arbeitsrechtlichen Bereich Sachen mit sich machen lassen bzw. sie sind so gesehen kontraproduktive Umwälzungen mitgegangen – das fasst man gar nicht!

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  6. genova68 schreibt:

    reinhardt,
    ja, sehe ich alles genauso, wobei: Die Grünen und die Ökologie: Ich bin nicht der Meinung, dass die Grünen den Umweltschutz „überbetonen“. Aufgrund grüner Themen kann man heute wieder im Rhein baden, die Luft ist sauber etc. Überbetont werden lediglich die Folgen des Klimawandels auf Berlin. Das ist des Deutschen Verlangen nach Apokalypse, nach Angst, gegen die er dann etwas tun kann. Im Prinzip alles auf dem Level von Emmerichschen Katastrophenfilmen.

    Umwelt, Bürgerrechte, Gleichstellung, Verbraucherschutz, das sind ja alles Themen, die die Grünen ganz angenehm umsetzen. Aber wirtschafts-, finanz- und sozialpolitisch nach wie vor unbeleckt und deshalb neoliberal. Den Grünen ist nach wie vor anzukreiden, dass mit ihrer kräftigen Mithilfe während rot-grün der Neoliberalismus in Deutschland erst so richtig in Fahrt gekommen ist. Im Nachhinein war es eine historische Fehleinschätzung meinerseits, mich über den erneuten Wahlsieg von rotgrün 2002 allen Ernstes gefreut zu haben. Das Datum ist nach wie vor ein tiefer Einschnitt in der jüngeren Politgeschichte, der die durch Lafontaines Abgang begonnene Neuausrichtung „linker“ Politik in die Tat umsetzte. Rotgrün als troianisches Pferd. Solange die Grünen hier nicht intensiv ihre Schuld diskutieren, bleibt die Partei eine grün angestrichene FDP. Die Konkurrenz zwischen den beiden Parteien erinnert mich an die künstliche zwischen Saturn und Media-Markt.

    Dein letzter Satz, reinhardt, bringt das alles ja ganz gut zum Ausdruck. Es ist eine Wohlfühlpartei. Verglichen mit dem Engagement der Achtziger ist es unfassbar, was für ein stromlinienförmiger Langweilerverein die Grünen geworden sind. Aber das braucht der Deutsche halt.

    Die Partei „ist besser zur Umwelt als zu den Belangen der Arbeiter und Angestellen“, schreibst du. Stimmt, so kann man das auf den Punkt bringen. In Deutschland hat diese Perspektive ja Tradition.

    Allerdings würde ich behaupten, dass der Grünen-Hype nicht lange gutgehen wird. Das wird in BW schon bald zu Reibereien führen, weil die sich dort entweder mit der Industrie anlegen oder sich nichts tut. Die werden es in BW nicht so einfach haben wie im Osten, hunderte von Windkrafträder aufzustellen. Der Stolz des konservativen Bürgers wird sich da einschalten. Der Kretschmann muss die Politik machen, die seinem Äußeren nach zu vermuten ist. Dafür wurde der gewählt. Es bleibt spannend.
    ——————-
    Die Degenhardtgeschichte könnte eine schöne Parabel sein. Hat Jesus nicht auch irgendwelche Unterprivilegierten übervorteilt? Allerdings wundert mich, dass du, Nihilist dich über Degenhardts Vorgehen beschwerst. Die „jungen Linken“ konnten sich keine Karte mehr kaufen, da das Konzert ausverkauft war, nehme ich an. Also war nur noch Platz auf der Bühne frei.

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  7. Nihilist schreibt:

    Tja, ich habe mich damals geärgert. Neid war wohl auch ein Beweggrund. Denn ich hätte auch gerne auf der Bühne gesessen.

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  8. reinhardt schreibt:

    genova68, dieses Über-das-Ziel-hinaus-Schießen der Grünen bezog sich auf manche Erlasse, die die Grünen auf lokaler Ebene wider die Vernunft durchgedrückt haben – und die sie (nach Jahren) auch selbst wieder zurückgenommen haben. Erstens ehrt es die Grünen, dass sie Entscheidungen zurücknehmen. Zweitens empfinde ich es als völlig normal, dass nach einer Kehrtwende, wie hier in Sachen Umweltbewusstsein, das Pendel zunächst in ein anderes Extrem ausschlägt. W0bei, ich mag Windkrafträder. Und meine Hoffnung in eine die Ressourcen schonende Energiegewinnung richtet sich gerade auf die Windenergie: meine (etwas naive) Vorstellung ist die, dass mindestens genauso viel Geld in die Forschung zur Effizienz-Steigerung von Windkrafträdern und zu effektiv(er)en Speichermöglichkeiten von Strom gesteckt würde wie in die Atomkraft gesteckt wurde und wird; die Gewinne der Atomkraftwerksbetreiber ließen sich doch bestimmt auch irgendwie in diese Richtung nutzen? …

    Ja, der Kretschmann, ich freue mich. Andererseits tatsächlich: Wie lange wird der Grünen-Hype anhalten? Ich behaupte: Wenn Die Grünen weiter so verfahren werden, dass sie „die Industrie“ doch irgendwo schonen und für echte Reformen – die sie sich ja tatsächlich an ihr Parteirevers heften können -, in die Taschen der Arbeiter und Angestellten greifen, dann wird es „den Deutschen“ ganz schnell zu viel werden. Also eventuell besser so (wieder naiv): die Rechnung für Verbesserungen im Sinne der Umwelt möge doch bitte verstärkt am Anfang, bei „der Industrie“ eingefordert werden – und nicht am Ende, bei den Verbrauchern. Auch wenn ich sie in diesem Rahmen hier nur extrem verkürzt und schematisch angerissen habe, ich denke an der Ausbalancierung in der Beantwortung dieser Frage wird es sich entscheiden wie lange der „Grünen-Hype“ die Zeit überdauern wird.

    Wie du so treffend zusammengefasst hast: Es bleibt spannend.

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  9. genova68 schreibt:

    Ja, so ist es. Das Verhältnis von Sozial- und Umweltpolitik wird von den Grünen klar einseitig aufgelöst und ihrer in aller Regel unpolitischen Klientel ist das egal oder sie finden es ok. Ich erinnere mich noch gut an den Appell von Verbraucherministerin Künast, doch bitte nicht mit Billigfliegern zu reisen. Wenn man das fünffache für den Flug zahlt, ist es offenbar ok.

    Grün ist derzeit so trendy wie es die FDP vor einigen Jahren war. Damals zeigte man mit seinem Bekenntnis zur FDP, dass man selbst erfolgreich ist, den Staat nicht braucht, Leistung bringt etc. Heute zeigt man mit seinem Bekenntnis zu den Grünen, dass man dieser formal erfolgreichen Gruppe zugehört: Akademischer Bildungsabschluss, überhaupt ganz gut gebildet, beruflich irgendwie erfolgreich, vielleicht postmaterialistisch, umweltbewusst, modern, nicht spießig, nicht miefig. In den Siebzigern war die Trendsetterpartei vielleicht die SPD, mit dem Unterschied, dass es da wirklich noch um wichtige Inhalte ging, denke ich.

    Aber sicher: Gut möglich, dass die Grünen in BW ernsthaft etwas bewirken, du bringst da ja die richtigen Ansätze. Ich meine nur kürzlich gelesen zu haben, dass es in BW relativ wenig Windräder gibt und ich schätze, dass die stolzen Bürger dort sich recht schnell gegen deren Aufstellung aussprechen, zumal man die dort in den Hügeln sicher leichter sieht als auf dem platten Land.

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  10. HF schreibt:

    Sieht man sich die Waehler der Gruenen an, weiss man, warum das Soziale hintan steht. Insoweit betreibt diese Partei auch eine Klientelpolitik.

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  11. reinhardt schreibt:

    genova68,
    so so, der Süden beziehungsweise der Südwesten Deutschlands will sich also aus allem Guten sowie Schlechten raushalten!? ;-)

    Keine Atom-Endlager, bitteschön. Keine Windräder, um Gottes Willen. Wasserkraft, nein danke. Und Kohlekraftwerke sind sowieso besser im Ruhrpott oder im Osten Deutschlands aufgehoben.

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  12. genova68 schreibt:

    Ein lesenswerter Blogbeitrag zum Thema:

    http://www.philibuster.de/themen/alte-welt/landtagswahl-die-linken-schaffen-sich-ab.html

    Auszug:
    „das, worum es geht, ist ja eigentlich folgende Überlegung: Dass das empörte und in den Mittelschichten und Eliten ansässige bildungsbürgerliche Wutbürgertum erfolgreich Entsolidarisierungstendenzen befeuert und die Dethematisierung von Armut durchgesetzt hat – ganz gleich ob der Mehrheitsgesellschaft angehörig oder nicht, denn wir reden in diesem Zusammenhang über so etwas wie ökonomische Identitäten. Und deswegen beherrschen wir heute auch nicht viel mehr als das Vorantreiben der Biologisierung und Ethnisierung sozialer Widersprüche – und das heißt: eine Verbindung von Solidarisierung und Widerstand scheint im Moment nicht möglich, und jegliches Gegengewicht zu merkwürdigen Tendenzen ist irgendwie schon von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Deswegen schimpfen wir auf Atomkraft und einen Bahnhofsumbau, und nicht auf die neue Arbeitsmarktreform oder Kinderarmut. Und vielleicht ist „links“ auch das falsche Wort, und vielleicht sollte man sich darüber auch nicht den Kopf zerbrechen – vielleicht genügt es, sich daran zu erinnern, was wir derzeit haben: Kapitalismus als ein anonymisierendes und entsolidarisierendes System. In Reinform.“

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  13. InitiativGruppe schreibt:

    Wie ist der Zusammenhang:
    Die Grünen machen den Zeitgeist grün und weniger sozial,
    oder: der grüne aber unsoziale Zeitgeist macht die Grünen zu dem, was sie sind – betont grün, nicht so betont sozial?

    So wie ich glaube, dass primär die Menschen ihre Religionen und Ideologien machen und nicht Religionen und Ideologien die Menschen – sekundäre Rückkoppelungen zugestanden – so sehe ich auch meine Grünen als Kinder ihrer Zeit, Kinder der Umstände, Kinder der realen Verhältnisse. Und nicht als Verursacher.

    Mir fällt dazu Bismarcks geniales Bild ein vom Politiker, der beobachtet, wohin die Gelegenheit sich bewegt – und sich, wenn sie sich mal in eine brauchbare Richtung bewegt, kühn an ihre Rockschöße hängt und von ihr tragen lässt.

    Die Tendenz des Zeitgeistes, grün zu werden, haben einige frühzeitig erkannt, parteipolitisch klug organisiert – und jetzt profitieren sie davon. (Ich mit ihnen.)

    Wohin weht der Zeitgeist bezüglich der sozialen Frage? – Die Fragmentierung und die Ablenkung nehmen zu — woraus folgt, dass sich bestenfalls anarchischer Widerstand ergibt … woraus wiederum folgt, dass wir uns in Richtung Verarmung und Leibeigenschaft bewegen.

    Schlimm. Aber ich hab bisher noch von keiner dem Problem gewachsenen Widerstandskonzeption gehört. Die Sozialen und die Sozialisten sind RATLOS. Jammern und schimpfen und kritisieren und klagen an — aber da gibt’s nix Praktisches hinter den heißen Worten.

    Das ist niemandes Schuld. Wir haben nur eben keinerlei (soziale) Chance. – Es sei denn, – ja, es sei denn, das Kapital selbst – die Geldmacht – entwickelt ein genuines Interesse an der sozialen Frage, an einem gewissen Minimum sozialer Gerechtigkeit – aus Gründen der globalen Konkurrenz um qualifizierte Arbeitskräfte. Arm und qualifiziert – das geht nur bedingt zusammen. Braucht man 90% der Menschen im arbeitsfähigen Alter als qualifizierte Arbeitskräfte für den Profit, schafft man einen machtvolle Mittelschicht, die dann auch politisch wieder was zu sagen hätte.

    Ob das für Europa eine Perspektive ist?

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  14. genova68 schreibt:

    Ja, die Grünen sind Kinder ihrer Zeit. Mir geht es ja weniger darum, die anzuklagen, zumal ich mich denen kulturell immer noch verbunden fühle, mehr als der Linkspartei. Aber wir reden von Politik und nicht von Pop, insofern versuche ich, auf die Inhalte zu achten.

    In den frühen Achtzigern gab es ein Buch aus der Spiegel-Reihe „Die Grünen“. Es wurden von verschiedenen Autoren kapitelweise alle möglichen Politikfelder und die Haltung der Grünen dazu vorgestellt: Ökologie, Feminismus, Gender, Verkehr, Bildung etc. Das Kapitel „Wirtschaft“ begann mit der Vorstellung der Stelle im Programm der Grünen. Und dort stand damals: „Wird noch erarbeitet“.

    Das scheint mir typisch. Es war denen damals einfach egal, es war nicht ihr Thema. Das hat damals wohl niemanden gestört, aber HEUTE geht sowas eben auf keinen Fall mehr. Und die fehlende Wirtschaftskompetenz merkst du bei denen immer wieder. Natürlich erzählen die dir gerne was von ökologischer Marktwirtschaft blabla. Aber sie interessieren sich nicht für gesellschaftlich-ökonomische Zusammenhänge. Sie haben keinen linken Ansatz, und das sollte man wenigstens so klar sagen. Mir geht es eigentlich nur darum, klarzustellen, dass die Grünen mittlerweile zu unrecht das Label „links“ innehaben. Und genau wegen dieses Labels können die auch von Leuten gewählt werden, die sich irgendwie kulturell „links“ fühlen. Die reale Politik hingegen ist in Teilen neoliberal. Dieser Etikettenschwindel nervt.

    Die Grünen als Kinder ihrer Zeit: Ja, als Wohlstandskinder, die sich um ökonomische Realitäten nicht kümmern müssen, weil sie sich entweder im System gut eingerichtet haben oder von einem Erbe zehren. Das ist ja nicht zu kritisieren, ich schreibe hier ja auch nicht aus einer Opferperspektive, aber ich erwarte von Politik mehr. Und eine Partei, der als Antwort auf die neoliberalen Zumutungen nichts einfällt außer Kritik an der Linkspartei, ist für mich obsolet.

    Die Grünen sind also nicht Verursacher, aber sie haben kein Konzept des Gegensteuerns, weil sie gewissermaßen politisch beschränkt sind. Die Grünen sind eine unpolitische Partei. Deshalb sind sie so beliebt, als Wohlfühlverein. Das halte ich für gefährlicher als die FDP, bei der mittlerweile jeder weiß, wofür die stehen.

    Erst gestern wieder: Rotgrün in Berlin hat 2001 die Wohnungsbaugesellschaft GSW verkauft, an Goldman Sachs und eine Heuschrecke. Die gehen jetzt an die Börse, die Mieten steigen. Sowas ist eine asoziale Scheißpolitik, das muss man so deutlich sagen.

    Dass die Sozialisten ratlos sind, ja, stimmt. Aber die sind wenigstens in der Lage, sich auf linke Modelle zu beziehen, von mir aus auch auf Begriffe wie Klassenkampf o.ä., die können den Klassengegensatz thematisieren, einen Begriff wie „Kapital“ verwenden und sind nicht schon zufrieden, wenn an der Ecke ein kleiner Ökoladen aufmacht. Dass die Linken nur jammern, stimmt nicht. Da liegen Konzepte in der Schublade, aber gegen die etablierte Medienmacht haben die keine Chance. Machen wir uns keine Illusionen über Pressefreiheit im Kapitalismus. Die Grünen arrangieren sich da viel besser.

    Die Grünen haben, um das abschließend zu sagen, mit rotgrün im Bund historische Schuld auf sich geladen. Da es darüber nie eine interne Debatte gab, muss ich davon ausgehen, dass die dazu stehen. Personelle Ausnahme bestätigen die Regel.

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  15. InitiativGruppe schreibt:

    Dass die Grünen eine unpolitische Partei seien, das sehe ich natürlich nicht so. Eher im Gegenteil. Die Grünen haben den weitesten und den stärksten politischen Ansatz von allen.

    Dass den Grünen die Wirtschaftspolitik fehlt und sie deshalb ein gutes Stück weit anfällig für Neoliberalismus sind, halte ich zwar für übertrieben, es ist aber durchaus etwas Wahres dran. Die SPD hat in den Zeiten der rot-grünen Koalition neoliberale Politik gemacht – und die Grünen, für die die soziale Frage nicht im Zentrum steht, haben die SPD das machen lassen. Verhindern hätten sie es nicht können. Mehr Widerstand und mehr eigenes soziales Profil hätte ich mir gewünscht, so wie ich es mir auch heute wünsche.

    In München habe ich da über die Grünen nicht zu klagen. In München sind die Grünen stark sozial orientiert. Sigi Benker, Sprecher der Rathausfraktion, kommt aus der sozialistischen Tradition.

    Für sozialistische Programmatik gibt es seit einiger Zeit nicht viel positive Resonanz. Das macht es jeder Partei schwer, das Soziale zu forcieren. Auch der SPD. Es würde mich freuen, wenn sich das ändern würde. Ich glaube aber nicht recht daran.

    Mit der Linken kann man im Westen noch keinen Staat machen. Darum zählen sie für mich (noch) nicht. Hoffentlich raufen sie sich bald personell und programmatisch soweit zusammen, damit sie endlich zum politischen Partner werden können. (Im Osten ist das anders, ich weiß.)

    Alles in allem: Die Bürger kriegen die Parteien, die sie verdienen. Die Parteien, die wir haben, sind das Spiegelbild der Einstellungen der Bürger. Auch wenn die es nicht wahrhaben wollen und dauernd über die Politiker schimpfen.

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  16. genova68 schreibt:

    IG,
    wenn die Koalition aus grün und rot besteht, kann ich nicht einfach sagen, dass das eine die SPD gemacht hat und die Grünen haben „machen lassen“. Das ist EINE Regierung und die Grünen hätten ohne weiteres die Möglichkeit gehabt, die SPD-Linke um Schreiner zu unterstützen. Ich habe da nie etwas gehört. Eine Koalition geht man deshalb ein, weil man alleine keine Mehrheit hat, und das wussten die Grünen auch.

    Dass die Grünen in den unteren Chargen oft anders ticken, mag sein, kommt mir auch so vor.

    Ob man mit einer sozialistischen Programmatik derzeit nicht weiter kommt: da wäre ich mir nicht so sicher. Unzählige Umfragen und die reale Politik könnte man auch als Beleg für die gegenteilige Meinung annehmen. Die zwölf Prozent für die Linken bundesweit zeigen das ja zum Teil. Dass die sich gerade selbst zerlegen, hat andere Gründe. Schau dir die Grünen in den Achtzigern an, die haben sich auch regelmäßig zerlegt.

    Ich will die Grünen aber gar nicht in Bausch und Bogen verdammen, in vielen Politikfeldern haben die ja einiges bewirkt, keine Frage. Ich fühle mich denen „kulturell“ immer noch halbwegs verbunden.

    Und wer wessen Spiegelbild ist: Das ist alles kompliziert, die öffentliche bzw. die veröffentlichte Meinung wird heute viel wesentlicher als früher über Medien transportiert und die wichtigen Verlage haben ihre Interessen. Schau dir die Süddeutsche an: Die haben einen Prantl, aber die wissen genau: Mit einem linkeren Kurs wären die ihre Geldgeber los: Anzeigenkunden und, viel wichtiger, die mittlerweile unzähligen „Partnerschaften“ bei Verlagsbeilagen, bei der Promotion von Golfveranstaltungen, bei der Vorstellung edler Weine etc. Das würde dann alles wegfallen, der Laden wäre futsch. Auch hier müsste man wieder systemisch rangehen.

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  17. InitiativGruppe schreibt:

    Ganz recht,
    so sind die Machtverhältnisse.
    Wenn ich PRAKTISCH Politik machen will, berücksichtige ich so genau wie möglich die Machtverhältnisse und bewege mich IN IHNEN und MIT IHNEN. Nur dann kann ich gelegentlich mal am Rand etwas anderes machen oder sogar im Zentrum die Gewichte etwas verlagern.

    Die Grünen sind primär für die grüne Thematik zuständig, die SPD für die soziale. Die Grünen sollten nicht die SPD dadurch überflüssig machen, dass sie zu der Partei werden, für die die sozialen vor den grünen Themen kommt. Ein bisschen Arbeitsteilung muss schon sein. Parteien müssen breit aufgestellt sein, alle Gebiete abdecken – aber auch einen klaren Kern haben, Präferenzen. Die ist bei den Grünen GRÜN, nicht ROT. Und so soll das auch sein. Das sage ich, als eher rotes Einsprengsel bei den Grünen.

    Es ist schon gut, dass sich GRÜN eher zu ROT hingezogen fühlt, ganz anders als GELB. Wäre es anders, ich wäre nicht bei GRÜN.

    Uns bleibt nur die Hoffnung, dass die Linke sich zusammenrauft und in ganz Deutschland zu einer koalitionsfähigen Partei wird. Dann würde es für soziale Fragen politisch besser ausschauen.

    Trotzdem bleibe ich insgesamt pessimistisch: Die jungen Leute von heute verstehen Solidarität eher selten … Eine starke soziale Bewegung in Deutschland sehe ich nicht kommen. – Möge ich mich täuschen!

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  18. genova68 schreibt:

    Tja, das mit den Präferenzen ist so eine Sache. Dass die Grünen vor allem als Umweltpartei wahrgenommen werden, hängt mir ihrer Geschichte und ihrem Anliegen zusammen. Aber die Grünen haben sich abgekoppelt von der Einsicht, dass ganzheitliches Denken sich nicht nur auf die Natur beziehen kann, sondern auf soziale Belange ausgeweitet werden MUSS, wenn es denn ganzheitlich sein will. Und da überzeugt mich auch nicht das Argument der Arbeitsteilung. Wenn die SPD neoliberal verseucht ist, dann sollen die Grünen also mit den Achseln zucken und sagen: „Bedauerlich, aber das ist halt nicht unsere Kernkompetenz.“

    Dass den Grünen das Soziale einigermaßen egal ist, hängt mit dem schon oft beschriebenen zusammen: Wohlstandsbürger, die sich eine Ökowelt hinzaubern wollen und denen der verreckende Bettler vor der Tür egal ist. Die Vertreibungslogik durch explodierende Mieten entspringt genau diesen Grünen, die sich in ihrer ökologischen Viertelumgestaltung auch noch gut vorkommen. Ich will nicht alle Grünen über einen Kamm scheren, aber diese Grundhaltung beobachte ich. Auch den Rückzug ins Private: Hauptsache, der Ökoladen nebenan führt das richtige, gesunde Produkt für
    mein Kind, der Rest ist mir egal, es ist ja auch alles so kompliziert.

    Die Frischluftschneisengeschichte aus dem Artikel oben finde ich bezeichnend, und noch bezeichnender dabei finde ich, dass ein Großteil des dafür benötigten Geldes allen Ernstes aus einem öffentlichen Topf kommen soll, aus dem Programm „Soziale Stadt“. Das, was die Ökos da rausnehmen, fehlt dort, wo es wirklich gebraucht würde. Ich muss diesen Leuten unsoziales Verhalten unterstellen, in typisch deutscher Kleinbürgermanier übrigens: Flucht ins Grüne.

    Das unterstelle ich selbstredend nicht dir persönlich, IG.

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  19. Nihilist schreibt:

    Macht – eben, und in „kleinen Parteien“ ist es nun einmal leichter diese zu ergreifen, so wie es Fischer durchgezogen hat.

    Und wenn dann eine „kleine Partei“ mit einem Thema was den Bürgern am Herzen liegt den Fuß in der Tür hat … kommen die Karierregeilen um sich dort an dei Spitze zu setzen. Das hab ich hier in meiner Heimatstadt erlebt. Nicht nur „die Grünen“, denn Kommunal gibt es auch viele andere kleine Parteien, die von den Wählern ihre Stimme bekommen. Und dann?

    Dann geht das Spiel „Bäumchen wechsle dich“ los. Gerade in meiner Heimatstadt ein eklatantes ekliges Spiel. Der ursprüngliche Wählerwillen ist an der Zusammensetzung des Rats nicht mehr zu erkennen.

    Und wenn ich die Wechselorgien betrachte, dann kann ich verstehen das viele Bürger nicht mehr zur Wahl gehen.

    Es gab 19 Wechsel.

    Forum – Unabhängigen
    CDU – Unabhängigen
    SPD – Unabhängigen
    FDP – SPD
    Grüne – Parteilos
    SPD – Unabhängigen
    Parteilos – FDP
    LAD – Linke
    2 FDP – Abspaltung Liberalen
    2 SPD – CDU
    3 SPD – WfD
    Tierschutz – Grüne
    3 FDP – FDelP

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  20. Fishtank schreibt:

    Wohlstandsbürger, die sich eine Ökowelt hinzaubern wollen und denen der verreckende Bettler vor der Tür egal ist. Die Vertreibungslogik durch explodierende Mieten entspringt genau diesen Grünen, die sich in ihrer ökologischen Viertelumgestaltung auch noch gut vorkommen. Ich will nicht alle Grünen über einen Kamm scheren, aber diese Grundhaltung beobachte ich. Auch den Rückzug ins Private: Hauptsache, der Ökoladen nebenan führt das richtige, gesunde Produkt für mein Kind, der Rest ist mir egal, es ist ja auch alles so kompliziert.

    Sehr gut beobachtet. Diesen Eindruck teile ich, weshalb GRÜN für mich nie in Frage käme. GRÜN ist für mich ein Luxus, den wir uns in dieser Form nicht leisten sollten, so lange die soziale Schieflage so eklatant ist. Auf die SPD vertrauen? Sicher nicht.

    Ich würde sogar soweit gehen und behaupten, dass viele Wähler GRÜN wählen, weil sie sich dann „besser“ fühlen – durch die Medien wird einem ja gerne ein schlechtes Gewissen eingeredet bzgl. CO2, Flugreisen, …
    GRÜN als Absolution?

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  21. genova68 schreibt:

    Grün sollte eigentlich kein Luxus sein, sondern es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, dass man Begriffe wie Nachhaltigkeit nicht einseitig auf Ökologie beschränkt und das Soziale weglässt. Dass die Grünen sich so entwickelt haben, hängt m.E. auch damit zusammen, dass es funktioniert. Das Ökobürgertum honoriert es an der Wahlurne. Und besser fühlen kann man sich so auch, ja.

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  22. InitiativGruppe schreibt:

    Die Tendenz, sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen und zum reinen („reinen“!) Individuum zu werden, zur „authentischen“ Privatperson, die glaubt, sich gesellschaftlich und politisch die Hände nicht schmutzig machen zu müssen – die hat schon Sennett vor Jahrzehnten gut analysiert. Wir beobachten die zunehmende Privatisierung, den schwächer werdenden Bürgersinn, die immer weitere Aufblähung des Ego, die Abkehr von bewusster Strategie und Taktik …

    Das Ego ist sich selbst genug. In seiner Einbildung.

    Das steckt meines Erachtens hinter den Erscheinungen, die man überall im politischen Raum beobachten kann: den langsamen Verfall politisch-öffentlicher Verantwortungsbereitschaft. Sie wird ersetzt durch Zynismus und Verachtung und Gleichgültigkeit. Ich würde dies wiederum als Teil des Trends weg von der Realität überhaupt diagnostizieren. Das narzisstisch aufgeblasene Ego kappt die schon lose gewordenen Seile, die es noch mit der Realität verbinden, und verschwindet ganz in seiner Eigenwelt. Die Realität dient dann nur noch als Materiallieferant. Und als Schreckgespenst.

    Alles in allem finde ich die Grünen noch relativ stark im ganzheitlichen und langfristigen Blick auf Politik. Ist der denn eurer Meinung nach bei einer anderen Partei besser ausgeprägt?

    Politik in unserer Republik geht nun mal nicht ohne Parteien. Also erzählt mir nicht, dass man auf Parteien verzichten könnte. Sagt mir lieber, was IHR praktisch tut, um das Gemeinwohl politisch stärker zur Geltung zu bringen.

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  23. Nihilist schreibt:

    Kämpfen – auf dem Rechtsweg – und mir „Schreiben“ an den Rat + OB.

    Beispiel gefällig (gekürzt auf das Wesentliche):

    An
    Herrn Oberbürgermeister …
    sowie an den
    Fachbereich Jugend, Familie, Senioren und Soziales
    Herrn …

    Mietspiegel 2010 der Stadt …

    die Stadt XYZ hat unter anderem die Mieten der ABC-Wohnungen als Richtwert herangezogen, mit Mieten, die nicht mehr stimmen. Denn durch das Energiekonzept der Bundesregierung angeregt versucht die ABC nun durch eine Modernisierung die Kosten pro Quadratmeter um 2,02 € anzuheben. Beispiel: alte Nettokaltmiete 171,86 €, neue Nettokaltmiete 243,- € eine Steigerung um 41 %.

    Fachleute der Energieagentur Dena, die 330 Häuser verschiedener Bauart saniert hat, kommt auf Kosten zwischen -,90 € und 1,25 € pro Quadratmeter.

    Ein Mietspiegel kann nicht auf Dauer mit den „alten Werten“ gelten, es muss eine laufende Anpassung vorgenommen werden, gerade im Hinblick auf die Mietsteigerungen, die durch notwendige Energiesparmassnahmen begründet werden. Oder müssen Erwerbslose nach jeder Modernisierung in Wohnungen umziehen die noch nicht an der Reihe waren.

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  24. genova68 schreibt:

    IG,
    „Alles in allem finde ich die Grünen noch relativ stark im ganzheitlichen und langfristigen Blick auf Politik.“

    Noch relativ stark: Du scheinst hier selbst ziemlich zu zweifeln. Wenn unter Ganzheitlichkeit der soziale Aspekt keine Rolle mehr spielt, ist es eben nix mehr mit Ganzheitlichkeit. Gerade WEIL sich bei den Grünen ja Fähigkeiten konzentrieren, wäre hier mehr zu erwarten. Die Grünen saugen gesellschaftliches Potenzial auf, das dann lediglich das Anti-Soziale praktiziert, sozial kaschiert durch die Umweltpolitik. So gesehen halte ich die Grünen für gefährlicher als die FDP. Die ist derzeit demaskiert, deren Bashing ist Volkssport.

    Deine kulturpessimistische Prognose: Ich bin da immer skeptisch, es geht nie einfach bergab, das ist zu oft der verklärende Blick zurück, wo ja angeblich alles besser war. Davor bin ich auch nicht gefeit, versuche das aber zu reflektieren bzw. detailliert zu begründen. Und wenn ich das so diagnostiziere, interessieren die Gründe. Und dann wird es wieder systemisch. Da komme ich mit der grünen Logik dann überhaupt nicht weiter.

    Die Privatisierung, die du ansprichst: Wo stehen die Grünen denn da? Die haben da immer alles mitgemacht, wo ist der Unterschied zur FDP? Mal abgesehen von Sonntagsreden. Und der „schwächer werdende Bürgersinn“: Ich weiß auch hier nicht, ob das so ist. S21, Atomdebatte, überhaupt politische Debatten gibt es doch zuhauf, es ist nur alles durchseucht von der neoliberalen Logik, die das Soziale als Kategorie wegsprengt bzw. in Form von „Jeder ist seines Glückes Schmied“ pervertiert. Die Grünen sind da voll dabei.

    Ich glaube, du bist da selbst voller Zweifel, das zeigt schon deine Frage nach besseren Parteien. Aber eigentlich geht es nicht um Parteien, wobei ich natürlich klar sage, dass ich die Linkspartei da für wesentlich sinnvoller halte, weil die die sozialistische Perspektive im Grundsatz drin haben und wahrscheinlich weit davor gefeit sind, die Ökologie gegen das Soziale auszuspielen. Letzteres ist mein Hauptkritikpunkt an den Grünen, und insofern sind die eine typisch deutsche, romantisierende, verklärende Partei.

    Und schließlich: Kritik muss möglich sein, auch ohne Alternativen aufzuzeigen oder irgendwas besser zu machen. Das ist mir zu positivistisch, das ist gerade eine Denke, die ganz schnell schief geht, da musst du nur mal ein bisschen in einer PR-Agentur mitarbeiten, um das zu checken. Aus einer fundierten Kritik wächst früher oder später ganz von selbst etwas Anderes. Der Mensch ist ja nicht blöd.

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  25. InitiativGruppe schreibt:

    Von meinem Blickwinkel aus siehst du die Grünen zu pessimistisch und den Sinn, Kritik ohne Praxisbindung zu üben zu optimistisch.

    Für mich ist Kritik GRUNDSÄTZLICH nur gerechtfertigt in einem ganzheitlichen Bezug, der die praktischen Alternativen mitdenkt.

    Drum sehe ich ALLE Parteien positiver als du. Mich interessieren politische Phantasien nicht so sehr, dass ich darüber die real existierende Welt vernachlässige. Ich schaue mich um und frage mich: Was geht mit den Menschen, so wie sie sind, was geht nicht? Was geht im Rahmen der Machtverhältnisse, so wie sie sind, und was geht nicht? –

    So pessimistisch ich bin, ich leide nicht besonders. Es ist eben alles, wie es ist, und wenn es (wie mir scheint) in den Graben geht, dann geht es eben in den Graben. Ich tu dagegen, was ich kann, aber das ist peanuts, das ändert am Kurs der Geschichte nichts.

    Sterben muss ich so oder so, weit ist der Tag nicht mehr entfernt, und was die Welt dann macht, wird der Leiche, die mal Leo Brux war, egal sein.

    Schade ist es schon um die Menschheit, denn ich mag sie. Ich mag sie so, wie sie ist. Melancholisch stelle ich fest, dass die Menschheit, so wie sie ist, ihrem Untergang entgegensteuert. Ich kann’s nicht ändern.

    Von meiner Münchner Erfahrung her kann ich nicht sehen, dass die Grünen hier das Ökologische und das Soziale gegeneinander ausspielen.

    Die Linkspartei gibt es (leider) in Westdeutschland so gut wie nicht, kommt also (vorerst) als politischer Faktor nicht in Betracht.

    Darüber ließe sich auch noch vieles sagen. Alles, was wir tatsächlich praktisch schaffen könnten, ist meilenweit entfert von dem, was wir schaffen müssten, um uns als Menschheit vor der Selbstzerstörung zu retten. Da bin ich viel radikaler als du, Genova. Und darum am Ende bescheidener. Ich verlange von mir und von den Grünen nicht, dass wir die Welt retten oder gar zufriedenstellende Verhältnisse auf Erden schaffen. Man soll von sich und anderen nicht verlangen, was nicht zu leisten ist.

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  26. genova68 schreibt:

    „Für mich ist Kritik GRUNDSÄTZLICH nur gerechtfertigt in einem ganzheitlichen Bezug, der die praktischen Alternativen mitdenkt. “

    Tja, da liegen wir Welten auseinander. Kritik ist für mich immer dann gerechtfertig, wenn jemand Kritik übt. Ob sie fundiert ist oder nicht, steht auf einem anderen Blatt. Nach deiner Logik kann Kritik noch so fundiert sein, wenn sie keine „praktischen Alternativen mitdenkt“, ist sie nicht gerechtfertigt. Man muss dann also die Klappe halten. Dast ist Positivismus in Reinkultur, das ist Regression.

    IG,
    ich verlange von den Grünen auch nicht, dass sie „die Welt retten“ (was soll das für ein Vorwurf sein gegenüber meiner konkreten Analyse?), ich analysiere ihre Politik. Und da komme ich in Teilen zu einem desaströsen Ergebnis. Du scheinst mir da ein wenig zu pragmatisch zu sein. Wenn du fragst, was im Rahmen der Machtverhältnisse geht, so ist das ja ein grundsätzlich sinnvoller, praxisorientierter Pragmatismus. Aber politisch kommt da wahrscheinlich nur Dünnpfiff heraus, weil es ja gerade darum gehen müsste, Machtverhältnisse in Frage zu stellen. Wenn ich mir, als Beispiel, die Situation der steigenden Mieten in Berlin anschaue, dann sind die Machtverhältnisse so, dass sie weiter steigen. Der Investor hat die Macht. Bloß nicht infrage stellen. Das ist alles keine politische Analyse, sondern es ist ein Sich-bequem-Einrichten in den Verhältnissen, darüber hinaus ein Mundtotmachen von Kritikern.

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  27. Nihilist schreibt:

    Also zur „Kritik“. Kritik wird immer (oder besser meistens) als „Kontra“ zu sich selbst empfunden. Wenn Christen Muslime kritisieren, oder eben umgekehrt, entstehen Spannungen. Die haben die Gewohnheit sich aufzubauen und irgendwann zu entladen. Das, genova, entspricht ihrer Aussage, Sie halten Kritik immer für berechtigt.

    Ich halte Kritik oft für notwendig. Also wenn ich erkenne das etwas falsch ist, muss ich sogar Kritik üben. Aber die sollte dann KONSTRUKTIV sein.

    Ein Beispiel, ich wäre Blind und ziehe mir am Muttertag eine Blue Jeans an, dazu schwarze spiegelnde Lackschüchen, grün-weis-gestreifte Socken, lila Hemd, eine orange Krawatte und rasiere mir eine Glatze. Das schreit gerade nach Kritik. Wenn dann jemand nur sagen würde, du siehst sch…e aus, würde ich nicht verstehen warum mir das gesagt wird. Also auch wenn die Kritik sachliche Gründe hat, kommen diese Gründe aber nicht bei mir an.

    Deswegen plädiere ich bei Kritik immer dazu, diese zu begründen. Wenn sie dann auch noch konstruktiv ist, kann der Kritisierte das eventuell sogar akzeptieren. Also zum Beispiel, Hm, die Farbzusammenstellung deines Outfitts ist aber nicht gelungen. Und eine Jeans passt ganz und gar nicht dazu. Wie wäre es denn …

    So, diese „Kritik“ ist sicher konstruktiv ;-P

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  28. genova68 schreibt:

    Dass Kritik „konstruktiv“ sein und man sie begründen soll, ist ein Allgemeinplatz. Was soll sie denn sonst sein? Destruktiv? Selbst wenn eine Kritik Destruktion forderte, müsste sie in dieser Forderung konstruktiv sein, sonst klappt es nicht mit der Destruktion.
    Ob Kritik gerechtfertigt ist oder nicht, kann ich höchstens von Fall zu Fall entscheiden. Aber wahrscheinlich wird hier der Begriff Kritik in dem volkstümlichen Sinn des „negativ darstellens“, des „nörgelnsd“ gebraucht, was der Begriff an sich mitnichten meint. Kritik meint mehr oder weniger „beurteilen“, Kritik ist also eine Form von Anteilnahme am Sachverhalt. Warum das grundsätzlich nicht gerechtfertigt sein soll, ist mir schleierhaft.

    Und genauso wenig würde ich einem Kritiker, also jemandem, der Anteil nimmt, vorschreiben, dass er diese Anteilnahme nur zeigen darf, wenn er „praktische Alternativen mitdenkt“. Sicher sieht es in der Praxis so aus, dass Lösungsmöglichkeiten vom Kritiker vorgeschlagen werden, einfach schon deshalb, weil seine Kritik dann eher gehört wird.

    Wichtig ist doch, das Unbehagen zu formulieren. Was sich daraus ergibt, wird man sehen.

    Mit dem, was ihr da vorschlagt, geht ihr lediglich Positivisten auf den Leim. Ich möchte mein Unbehagen, woran auch immer, ausdrücken dürfen, ohne eine Lösung mitliefern zu müssen.

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  29. Nihilist schreibt:

    @ genova – ja klar kann man das.

    Aber das „Echo“, was bei dem Kritisierten damit erzeugt wird … das ist das Problem wenn man kritisiert um des kritisieren Willen.

    (Nordirland) Katholiken kritisieren Protestanten und umgekehrt! Den Erfolg kennen Sie.
    (Naher Osten) Israelis kritisieren Araber und ebenfalls umgekehrt! Auch der „Erfolg“ ist bekannt.

    Die Aufzählung könnte endlos so weitergehen. Da reicht ein Blick in deutsche Fußballstadien.

    Und „endgültige“ Lösungen werden ja nicht verlangt, nur Verbesserungsvorschläge.

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  30. genova68 schreibt:

    Nihilist,
    mir ging es um Kritik als eine Form der Auseinandersetzung, des Verlautbarens. Das hat nichts mit dem zu tun, was du schreibst: „Israelis kritisieren Araber“.

    Verbesserungsvorschläge zu „verlangen“ ist der nächste Schritt dahin, Meinungsäußerungen zu verbieten.

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