Immer wieder Kälteströme – bis auf sonntags

Notiz aus der Provinz: Der Chefredakteur der Ludwigshafener Tageszeitung Rheinpfalz, Michael Garthe, hat sich in einem Leitartikel zu Pfingsten gewünscht, dass die Kirche wieder „in die Mitte unserer Gesellschaft rücken“ soll. Warum?

„Kirche ist doch notwendiger Kontrapunkt zu unserem materiellen Lebensstil, zu unserer durchrationalisierten Arbeitswelt, zu Egozentrik und schneller Bedürfnisbefriedigung … Nie ist die Zeit so rastlos und hektisch gewesen wie heute.“

Und:

„Der Sonntag als Tag des Gottesdienstes, des Rastens und der Muße, als Tag für Familie und Freunde ist heute notwendiger denn je … Kirche kann die Kälteströme globaler Wirtschaft, Wissenschaft und Technik mit den Wärmeströmen der Zuwendung und Zuneigung, der Liebe und der Gemeinsamkeit des Glaubens durchmischen.“

(online nicht verfügbar)

Kurzversion: Das Diesseits ist ein Jammertal, da hilft nur noch die Konzentration aufs Paradies.

Wer ist dieser Garthe? Den Chefredakteursposten hat er seit 16 Jahren inne, außerdem ist er Fellow des Centrums für angewandte Politikforschung (CAP). Das CAP ist ein Ableger der Bertelsmann-Stiftung, zu der schon genug geschrieben wurde. Garthe ist sozusagen ganz offiziell ein publizistischer Propagandist des Neoliberalismus.

So geht das: Erst sorgen die irdischen Vertreter des Neoliberalismus für eine Politik der Ausgrenzung und der realen Kälteströme, dann postulieren dieselben Gestalten die Hinwendung zur Kirche, um ebendiese Kälteströme so zu „durchmischen“, auf dass die Durchschnittstemperatur gerade noch erträglich ist, so eine Art umgekehrte Oase. Dass Politik dafür sorgen müsste, aus den Kälte-strömen Wärmeströme im Hier und Jetzt zu machen, ist zwar ein naheliegender Gedanke, dessen Ausführung aber von neoliberalen Apologeten unter allen Umständen verhindert werden muss. Dann doch lieber die Kirche als transzendente Retterin präsentieren, natürlich nur, solange die der herrschenden Klasse verbunden bleibt. Bezeichnend auch, dass Garthe in seinem Leitartikel zustimmend Udo di Fabio zitiert, der seit Jahren versucht, die Reaktion in der gesellschaftlichen Entwicklung (ja zur Familie, nein zur Homoehe) mit einem Manchesterkapitalismus zusammenzubringen.

Natürlich ist das, was Garthe da verkauft, eine Beruhigungspille mit Verdum-mungsfunktion, und genau das soll es auch sein. Wahrscheinlich funktioniert es: Garthe schreibt gegen schätzungsweise 95 Prozent seiner Leser an und hält sich dennoch seit 16 Jahren an der Spitze der Zeitung. Daran sieht man, wie eingespielt das System ist,  die Politik der herrschenden Klasse als die des kleinen Mannes darzustellen.

Apropos Kirche und Neoliberalismus: Naomi Klein berichtet in ihrer „Schockstrategie“, dass die Chefstrategen der neoliberalen Bewegung um Milton Friedman bei ihrem Versuch, in Chile Fuß zu fassen, von der dortigen Katholischen Universität bereitwillig unterstützt wurden. Die Uni-Leitung hat sogar extra eine wirtschaftswissenschaftliche Fakultät gegründet, fast komplett beherrscht von Friedmans Chicago Boys. Die sorgten dann einträchtig mit dem Diktator Pinochet dafür, dass die chilenische Gesellschaft ab September 1973 in die Freiheit gefoltert wurde.

Meint Garthe diesen Typus Kirche?

Eigentlich kein Wunder: Neoliberalismus und weite Teile des Katholizismus sind seit Beginn ihrer Existenz damit beschäftigt, Emanzipation zu verdrängen und Sozialdarwinismus in Szene zu setzen – und zwar immer mit einem tröstenden Gegenpart. Während die Neoliberalen die freien Märkte propagieren, die irgendwann ertragreich für alle sein sollen, zeigt uns die Kirche, wo das immaterielle Glück zu finden ist – eben auch im Irgendwann und bis dahin immer wieder sonntags.

In der Gegenwart reicht es also, perfide Tipps zu geben. Die Rheinpfalz ist keine Ausnahme, die meisten Regional- und Lokalzeitungen ticken so. So gesehen ist das Zeitungssterben keine Tragödie. Ganz im Gegenteil.

(Foto: genova 2008)

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13 Antworten zu Immer wieder Kälteströme – bis auf sonntags

  1. InitiativGruppe schreibt:

    Ich stimme jedem Satz zu, ich stimme auch dem Tenor zu — und doch habe ich einen grundlegenden Einwand:

    Wir BRAUCHEN einen Kontrapunkt zu unserem materiellen, hedonistischen Lebensstil, zur durchrationalisierten Arbeitswelt, zur Egozentrik, zur Rastlosigkeit unseres Arbeits- und Alltagslebens …

    Und ich denke, den kann man auch religiös anstreben.

    Worauf es natürlich ankäme, wäre, dass dieser Kontrapunkt IN der Arbeitswelt gesetzt wird, IM Arbeitsleben, IM Konsumleben. Dann wird der Kontrapunkt allerdings antikapitalistisch. So unkapitalistisch wie zum Beispiel die Bergpredigt.

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  2. Nihilist schreibt:

    Meine Rede, schon lange, die Urchristen waren die ersten Kommunisten, wenn die Geschichten so stimmen.

    Und eine Herde mit „gleichen Schafen“ wird gerne vom Wolf unterwandert. Deswegen ist die Kirche ein Wolf im Schafsfell geworden.

    Schon die „Väter der Protestanten“, protestierten gegen die Richtung in die sich die Kirche entwickelt hat, sie wollten eine Reform, also zurück zu den Wurzeln, klar, dass die Wölfe an der Spitze alles unternahmen, um das zu verhindern. Hexenverbrennungen waren auch eine der Methoden, den „Ketzern“ ging es nicht besser.

    Die Kirchen sind Institutionen mit Macht über Leicht“gläubige“, die sich mit einem Heilversprechen im Jenseits abspeisen lassen.

    Mit Vernunft kann man aber leider den Gläubigen nicht kommen. Und ja weniger Wissen, das hat die Kirche ja Jahrhunderte lang mit Erfolg betrieben, um so mehr Glauben.

    Da kommt die Idee bei der Bildung zu sparen, gerade von einer (angeblich) christlich orientierten Partei ein ganz interessanter Stellenwert zu. Lasst uns das Volk in Dummheit versetzen, in Angst und Schrecken, dann ducken sie sich, um nicht aufzufallen und eventuell Opfer zu werden.

    Ja, der Prophet im eigenen Lande wird nicht gehört. Mein Schicksal.

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  3. genova68 schreibt:

    IG,

    die Frage ist, ob das ein Kontrapunkt sein soll. Wenn die Arbeitswelt zu schnell, zu kalt und zu durchrationalisiert ist, muss ich sie ändern, strukturell, insgesamt, und zwar dahingehend, dass ich mich in ihr wohl fühle. Ein Kontrapunkt würde bedingen, dass die Arbeitswelt so unangenehm bleibt, wie sie (unterstellt) ist, nur mit einer etwas längeren Pause oder so. Insofern ist genau der Kontrapunkt das Problem. Aber ich denke, ich verstehe, was du meinst.

    Nihilist,
    du bist der Prophet im eigenen Land? Dann eröffne doch einfach selbst ein Blog. Ich schau auch gerne mal vorbei.

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  4. mondoprinte schreibt:

    Apropos Chile bzw. Südamerika:
    Weite Teile der Amtskirche haben – mit Unterstützung Roms bzw. auf Anweisung Roms – seit jeher vieles unternommen, um zu bekämpfen, auszuradieren und zu kriminalisieren, was sich nicht nur im Wortschatz von Theologie und Glauben als Befreiungstheologie etabliert hat.

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  5. genova68 schreibt:

    Die Rolle der Kirche bei den Diktaturen in Lateinamerika wäre auch ein spannendes Thema. Man kann sich die Frontenstellung ja fast schon denken.

    Die Befreiungstheologie spielt in Kleins Buch überhaupt keine Rolle, was mich jetzt, wo ich deinen Beitrag lese, mondoprinte, ein wenig wundert.

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  6. mondoprinte schreibt:

    Chomsky weist in seinen Büchern zur Lateinamerikapolitik der amerikanischen Regierung gelegentlich auf die wichtige Rolle hin, die befreiungstheologisch orientierte Gruppen und Kirchenleute bei der Formierung von Opposition und Widerstand gegen Kapital, Armut und eine Komplizin namens Kirche spielten.

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  7. Nihilist schreibt:

    Kein Geld – bin ALG-2-Bezieher und komme so gerade über die Runden.

    Und mit meinen Ansichten, gegen Gewalt und gegen Unrecht, laufe ich bei anderen Erwerbslosen meistens gegen die Wand. In mehreren Erwerbslosenforen bin ich gesperrt, (z.B. Elo und Tacheles) weil ich Kritik an Betrugsratschlägen geübt habe. Die interpretieren Betrügereien als Notwehr. Das sehe ich anders. Der Zweck heilgt nicht die Mittel.

    So wie Gandhi es in – Wer den Weg der Wahrheit geht, stolpert nicht – beschrieben hat:

    Wie kann jemand an die Wahrheit glauben, wenn er nicht an die Gewaltlosigkeit glaubt? Wenn die Gewaltlosigkeit nicht verwirklicht werden kann, kann auch die Wahrheit nicht verwirklicht werden.

    Jedermann stimmt zu, daß es töricht ist, Böses zu tun. Aber die Ansicht, schlechte Mittel würden gerechtfertigt durch ein gutes Ziel, muß als noch törichter betrachtet werden.

    Wenn wir hinsichtlich der Mittel sorgfältig sind, ergibt sich ein gutes Ende von selbst. Mit anderen Worten: Es gibt keinen Unterschied zwischen Mittel und Zweck.

    (drei Zitate aus dem Buch)

    Ich bedaure zu spät geboren worden zu sein um diesen Menschen einmal persönlich kennen gelernt zu haben.

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  8. genova68 schreibt:

    Nihilist,
    ein WordPress-Blog kostet nichts:
    http://de.wordpress.com/

    Mondoprinte,
    ich erinnere mich noch an das sagenhafte Bild, als Johannes Paul II. auf einer Südamerikareise einen namhaften Befreiungstheologen (dessen Name mir dennoch entfallen ist) empfing und der vor dem Papst kniete. Extreme, erwzungene Unterwürfigkeit, so schien es mir damals.

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  9. InitiativGruppe schreibt:

    @ genova (die Frage ist, ob das ein Kontrapunkt sein soll. Wenn die Arbeitswelt zu schnell, zu kalt und zu durchrationalisiert ist, muss ich sie ändern, strukturell, insgesamt, und zwar dahingehend, dass ich mich in ihr wohl fühle. Ein Kontrapunkt würde bedingen, dass die Arbeitswelt so unangenehm bleibt, wie sie (unterstellt) ist, nur mit einer etwas längeren Pause oder so. Insofern ist genau der Kontrapunkt das Problem.)

    1. WIE transformiert man kapitalistische Verhältnisse in nicht-kapitalistische? – Indem man erst einmal Kontrapunkte setzt.

    2. Da es zurzeit noch keine wirkungsmächtige Bewegung gibt, die die kapitalistischen Verhältnisse wieder in Frage stellt, da also Arbeit und Geldverdienen uneingeschränkt unter marktwirtschaftlichen Regeln stehen, bleibt uns nur der Versuch, durch menschliche Kontrapunkte unsere persönliche und die Gesamtsituation etwas zu entspannen.

    Ich arbeite übrigens „kontrapunktisch“. Meine Arbeit und mein Arbeitgeber erlauben das.

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  10. mondoprinte schreibt:

    Johannes Paul II. ließ meines Wissens Leonardo Boff niederknien…

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  11. Nihilist schreibt:

    ich habe ein Problem. Auf der Startseite ist zwar die Möglichkeit, Deutsch zu wählen, wenn ich aber lesen will – unter dem Lnk – das gibts kostenlos:

    http://de.wordpress.com/features/

    steht alles nur in Englisch dort –

    und ich bin aus einer Generation die in der Schule noch kein Englisch hatte. Und mit Sprachen habe ich eh ein Problem, als auf Rechts gedrillter Linkshänder. Mir liegt Mathe eben näher.

    Übersetzungsprogramme – oh weh – das hab ich einmal getestet. Einen von mir geschriebenen Artikel (ich erstelle eine Stadteilzeitung ehrenamtlich) habe ich von Deutsch zu Englisch und wieder zurück in Deutsch – da stimmte nichts mehr.

    So waren meine „Auslandsaufenthalte“ bisher auch auf den deutschsprachigen Raum beschränkt.

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  12. genova68 schreibt:

    Nihilist,

    du kannst dich bei wordpress auf deutsch anmelden und wirst dann, wenn ich mich recht erinnere, auf deutsch weitergeführt. Die „Features“ sind erstmal nicht so wichtig.

    Die Frage ist also eher, ob du überhaupt einen Blog erstellen willst. Wenn ja, dann gibt es auch einen Weg.

    Mondoprinte,
    aha, danke.

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