Randnotiz aus einem Scheissland

Wer in Deutschland bahnfahren will, hat zwei Möglichkeiten. Entweder er zahlt einen Mitgliedsbeitrag von 225 Euro pro Jahr (man nennt das trendy „Bahncard 50“) und kann zu halbwegs erträglichen Preisen genau dann in Züge einsteigen, wenn er das will oder muss. Oder er legt sich monatelang vor Fahrtantritt auf einen Zug fest und zahlt, wenn er Glück hat, einen ähnlichen Preis. Verpasst er den Zug oder es kommt etwas dazwischen, hat er Pech gehabt. Er kriegt dann kein Geld zurück und bleibt die nächsten drei Monate zuhause. Wenn er vielleicht noch gar nicht weiß, dass er in zwei oder drei Monaten irgendwohin muss, hat er auch Pech gehabt. Und das, obwohl die Züge im Stundentakt kreuz und quer durchs Land fahren, nicht nur alle drei Monate einer. In Deutschland nennt man sowas Fortschritt.

Es könnte so einfach sein: Die Bahn gehört nach wie vor dem Staat und damit uns allen. Unsere Volksvertreter aber setzen Mafiosi wie Mehdorn oder seinen Nachfolger an die Spitze und fahren damit die Bahn als soziales und effektives Verkehrsmittel seit Jahren konsequent an die Wand. Mittlerweile kutschieren tausende Menschen jeden Tag via Mitfahrgelegenheiten in fremden Autos durch die Gegend, weil die Bahn ein kapitalistischer und durch und durch asozialer Laden geworden ist. Dazu kommt, dass die Bahnmitarbeiter immer übler getriezt werden und nach und nach in den Niedriglohnsektor abwandern. Überdies wählt eine in weiten Teilen minderbemittelte Bevölkerung die Marionetten von Union und FDP an die Macht, die ständig von Mobilität und Flexibilität faseln und gleichzeitig das absurde Frühbuchungssystem tolerieren. Diese Damen und Herren haben nun die Bahnprivatisierung erneut auf die Agenda gesetzt. Manche Deutsche finden es sogar sportlich, in nächtelangen Internetsitzungen die günstigsten Verbindungen rauszusuchen.

In einem vernünftigen Land wie Italien kann man jederzeit zu sozialen Preisen zugfahren (ja, auch unter dem bösen Berlusconi), vielleicht nur mit Tempo 130 statt 260, aber was habe ich von einem Hochgeschwindigkeitszug, wenn ich drei Monate warten muss, bis ich einsteigen darf? Verkehrspolitik findet in Deutschland nicht mehr statt, weil neoliberale Ärsche die Bahn lieber Stück für Stück in die Asozialität kicken. Die Bahn war einmal das ökologische Fortbewegungsmittel für alle. Heute ist sie Spielball des Kapitals, das Rendite erwartet, sonst nichts. Auch eine Form von Sozialdarwinismus made in Germany.

Und das Schlimmste: Man kann sich mittlerweile mit einem lächerlichen Blogeintrag in zehn Minuten die Wut von der Seele schreiben, statt den nächsten ICE abzufackeln.

Gute Reise.

Train_wreck_at_Montparnasse_1895(Foto: Wikipedia)

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7 Antworten zu Randnotiz aus einem Scheissland

  1. hanneswurst schreibt:

    Ein Aspekt noch:

    http://www.wdr.de/themen/verkehr/strasse02/busfernverkehr/index.jhtml

    Wer die wunderbaren Busbahnhöfe in der Türkei, in „Arabien und anderen Sarrazin Staaten“ kennt, der weiß diese flexible und erschwingliche Beförderungsart bestimmt zu schätzen.

    Wenn Du doch einmal einen ICE entgleisen lassen möchtest – ich will mitmachen! Der Zug mit Mannschaft und Fahrgästen wird abgekoppelt, für die Lok eine kleine Schanze gebaut. Hossa!

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  2. genova68 schreibt:

    OK, ich melde mich, wenn es soweit ist.

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  3. Der Bo schreibt:

    Du hast sowas von Recht…. Wenn ich nach Berlin gefahren bin, hab ich auch immer Mitfahrgelegenheit benutzt und garnicht erst bei der Bahn nachgeschaut! Es lohnt sich einfach nicht mehr…
    Also gutes Beispiel gibt es da auch die Route zwischen Kiel und Neumünster (S-H). Der Bus kostet mich 4€, eine Zugfahrt lag glaub ich bei 7.50€ zuletzt… und der Zeitunterschied liegt bei höchstens 5 Minuten… Es ist ein grauen….

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  4. Sander schreibt:

    Sehr richtig! Noch schlimmer finde ich es, dass ich mittlerweile fast ausschließlich (manchmal doch stressige) Mitfahrgelegenheiten nutze, obwohl ich den Vorgang des Bahnfahrens an sich heiß und innig liebe.
    Ich kann Verspätungen, Fußballfans, die debilen Ansagen mit Hinweisen auf den Snackautomaten im „Servicecenter in der Mitte des Zuges“, sich produzierende Jugendliche, 10,000 Kinderkarren, das ewige Im Gang stehen und zur Not auch muffige Schaffner (ist ja auch wirklich ein Scheißjob) ertragen, aber die Preise sind wirklich der Wahnwitz.
    Wie Du es schon erwähntest: Überall in Europa (außer vielleicht GB) ist die Bahn das, was sie sein sollte: ein für alle erschwingliches, unkompliziertes Massenverkehrsmittel. Karte kaufen, einsteigen.
    Kann es angehen, dass eine simple Bahnfahrt zum Luxusobjekt wird? Ist es schon so weit? Und was lehrt uns das? Alles zu privatisieren ist doch nicht der Weisheit letzter Schluß?
    In Neuseeland hat diese Praxis und gerade die marode Bahn (auch schön: verkauft an ein chinesisches Konsortium, die dann nur noch die profitablen Hauptstrecken pflegten und alles andere den Bach runter gingen ließen) zwei Regierungen die Macht gekostet. Dort kauft der Staat gerade mit großen Verlusten Post, Bahn, Stromnetz und was sie noch alles verhökert haben zurück.
    Wer spielt hierzulande die Kassandra?

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  5. genova68 schreibt:

    „Wer spielt hierzulande die Kassandra?“

    Wir beide, zum Beispiel.

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  6. Arne schreibt:

    klar, ehrlich und auf den punkt gebracht – du sprichst mir aus der seeele. noch mehr wut bekommt man dann bei wochenendtickets, überfüllten regionalbahnen und leer-vorbeifahrende ices. effektiv und nachhaltig ist was anderes. mann sollte mal ne umfrage auf nussknacker.de und eins der andere q&a portale starten und mal fragen, wer alles mit der db unzufrieden ist… die antwort kennen wir wohl alle.

    gruß

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  7. Nihilist schreibt:

    Und das Schlimmste: Man kann sich mittlerweile mit einem lächerlichen Blogeintrag in zehn Minuten die Wut von der Seele schreiben, statt den nächsten ICE abzufackeln

    Das hat dann ja gedauert – im Moment wird es ja versucht – und den Anstifter haben wir nun auch gefunden.

    ;-)

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