Zur Praxis der neoliberalen Ideologie (1)

Schwimmbäder nicht mehr bezahlbar

Schon wieder ein Thema, das keinen interessiert.

Wie weit die neoliberale Ideologie sich im praktischen Denken verankert hat, sieht man am besten an Kleinigkeiten. So veröffentlicht die lesenswerte und eigentlich kritische Zeitschrift für Architekturtheorie, Wolkenkuckucksheim, in ihrer jüngsten Ausgabe einen Artikel von Silke Langenberg zur Debatte um die Qualität der in den 1960er und 1970er Jahren entstandenen großmaßstäblichen Architektur auf Grundlage serieller Industrieverfahren. Ganz nebenbei fällt dieser Satz:

„Die Gesellschaft kann sich die große Masse der in den Boomjahren errichteten Infrastrukturbauten nicht mehr leisten.“

Wenn Frau Langenberg geschrieben hätte, dass der Staat sich das nicht mehr leisten könne, könnte man auf dessen Unterfinanzierung hinweisen. Warum „die Gesellschaft“ nicht mehr in der Lage sein soll, heute das zu leisten, was 1965 möglich war, ist unklar. Das volkswirtschaftliche Sozialprodukt hat sich seitdem vervielfacht, das Land ist reicher. Nur die öffentlichen Haushalten sind ärmer. Nicht aber „die Gesellschaft“. Sie kann sich sämtliche Infrastrukturbauten der 60er und 70 Jahre leisten und noch viel mehr.

Frau Langenberg (geb. 1974) argumentiert im weiteren ganz vernünftig und spricht sich für eine weitgehende Erhaltung dieser Bauten aus. Dass auch eigenständig denkende Menschen die neoliberalen Glaubenssätze verinnerlicht haben, zeigt die Effektivität der Infiltration.

Nicht mehr finanzierbar? Das Kombibad in Berlin-Gropiusstadt:

Kombi_Gropiusstadt_02

(Foto: Berliner Bäder-Betriebe)

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16 Antworten zu Zur Praxis der neoliberalen Ideologie (1)

  1. hanneswurst schreibt:

    Zitat aus http://de.wikipedia.org/wiki/Neoliberal: „Neoliberalismus dient daneben auch zunehmend – abweichend von seiner Bedeutung in den Wirtschaftswissenschaften – als Politisches Schlagwort.[4] Aussage und Sinn dieser neueren Verwendung sind jedoch umstritten.“

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  2. genova68 schreibt:

    Neoliberalismus darf ich jetzt also auch nicht mehr sagen? Am besten machst du mir eine Liste mit allen verbotenen Wörtern.
    Aber ich gebe dir recht: Der Wikipedia-Artikel macht deutlich, dass man damit früher etwas anderes verband als heute. Der Artikel zeigt auch, dass die frühen Neoliberalen nicht kapiert haben, wie Kapitalismus funktioniert. Sie wollten mehr Marktwirtschaft „bei größtmöglicher Reduzierung wirtschaftlicher Macht.“ Dazu müsse der Staat eine Rechtsordnung entwickeln, die den Wettbewerb fördert „und das Entstehen von privaten Machtpositionen zu verhindern sucht“.

    Das klingt nach Kindergarten. Wer hat denn dann die Macht? „Der Markt“, haha. Wenn die das wirklich Ernst meinten, MUSSTE das ja schiefgehen. Diese sogenannte wirtschaftliche Freiheit produzierte schon immer große Konzerne und somit Macht.

    Ich meine Neoliberalismus also als politisches Schlagwort :-) Sowas ist doch wichtig.

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  3. hanneswurst schreibt:

    Ich habe nichts gegen die Verwendung von Begriffen wie „Neoliberalismus“ und „Kapitalismus“. Es handelt sich meiner Meinung nach jedoch um sehr allgemeine Begriffe, die verwendet werden können um bestimmte Gemeinsamkeiten zu betonen („China folgt Russland in einer Entwicklung zu einem stärker kapitalistisch ausgerichteten System.“) oder um bestimmte Aspekte des Allgemeinbegriffes zu betonen oder um bestimmte Gemeinsamkeiten mit anderen Allgemeinbegriffen zu finden. („Die verschiedenen Ausrichtungen des Neoliberalismus haben gemeinsam, dass sie den Staat als ordnende Instanz des Marktes entmachten wollen, und ähneln in dieser Hinsicht dem Anarchismus.“)

    Ich bin zwar kein Verfechter des Nominalismus, meine aber dennoch, dass man bei der Operation mit Begriffen, die in „Wirklichkeit“ gar nicht existieren, wenigstens vorsichtig sein sollte. Außerdem wende ich mich vehement gegen ungenaue Verallgemeinerungen in gesellschaftlichen Diskussionen, weil sie Stereotypen und Vorurteile fördern. Eine abstrakte Entität, zum Beispiel „Gott“, kann sich durch unklare Disputation in den Köpfen der Diskutanten zu einer konkreten Entität entwickeln, zu einem Simulacrum, das ein fröhliches Eigenleben führt – und zu ungewollten und nicht sinnvollen Rückschlüssen. Ich erwarte von meinen Gesprächspartnern, dass eine klare Trennung von Tatsache, Prinzip und Idee erkennbar bleibt. Ich meine, dass Adorno mir in diesem Punkt zugestimmt hätte – was ich nur erwähne weil Adorno in Sachen Erörterung der Wirklichkeit für einige Intellektuelle immer noch Maßstäbe setzt.

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  4. hartmut schreibt:

    Hallo Hanneswurst:

    Ein bißchen Sprachtheorie bitte:

    „Operation mit Begriffen, die in “Wirklichkeit” gar nicht existieren“

    Doch, er existiert, mit einem relativ klar benennbaren Sinn, nämlich: Jene Form von marktwirtschaftlichem Verständnis, die alles – auch Infrastrukturen wie zB Schule, Uni, Arbeitsvermittlung, auch Privates wie etwa Sport („ich mach das, um fitt im beruf zu bleiben!“) – allein und ausschließlich Marktgesetzlichkeiten unterworfen sehen und unter Kosten-Nutzen-Kuratel stellen will. Dass er früher eine andere Bedeutung hatte, ist unerheblich. Nennt man Bedeutungswandel ;-) Um mal ein zugegeben hartes Beispiel zu geben: long long ago bedeutete die sog. „Swastika“ (also das Hakenkreuz) „Sonne“. Heute bedeutet es Nazis und sonst gar nichts.

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  5. hartmut schreibt:

    Hallo genova

    hier in hamburg gibt es ganz konkret Pläne (entscheidene befürworterin: Auwetter-Kurz), die Uni an die neue Hafencity zu verlagern und 60er-Jahre gebäude, etwa den Philturm, platt zu machen, um attraktives Bauland für „Investoren“ zur Verfügung zu haben.

    Dazu bemüht ma das Bausubstanzargument. Ich bin da nicht kompetent. Kennst Du den Fall?

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  6. hanneswurst schreibt:

    Hallo Hartmut,

    natürlich streite ich nicht ab, dass es so etwas wie Neoliberalismus gibt (es gibt ja zumindest das Wort), es handelt sich jedoch um eine abstrakte, nicht um eine konkrete Entität. „Den rechten Fuß von Hannes Wurst“ gibt es tatsächlich (noch), er befindet sich in der Wirklichkeit, er wirkt auf den Rest der Welt. „Gliedmaßen“ dagegen gibt es nicht, es handelt sich um einen abstrakten Begriff der zum Beispiel Arme und Beine von Menschen inkludiert, aber auch den Flügel eines Vogels. Gliedmaßen existieren nicht in der Wirklichkeit, sondern nur ihre konkreten Instanzen, wie zum Beispiel mein rechter Fuß.

    Wenn ich nun jemanden mit meinem rechten Fuß in den Hintern trete, dann ist es nicht zielführend, wenn der so Getretene über die Existenz von Gliedmaßen klagt. Hätte er gar die Macht alle Gliedmaßen abzuschaffen, dann wäre dies sogar ein großes Problem, zum Beispiel für die Vögel, die daraufhin vom Himmel fielen.

    Genauso wenig wie ich es jedoch dem Getretenen verübeln kann, dass er sich beschwert, so möchte ich auch Genova nicht in der Sache kritisieren, sondern nur in der Form des geäußerten Unmuts. Ich meine, dass eine pointierte Kritik sinnvoller ist als die Nutzung von Schlagwörtern, Phrasen und den damit verbundenen Verallgemeinerungen. Außerdem sollte eine Kritik im Idealfall auch einen Verbesserungsvorschlag enthalten.

    Noch ein paar Sätze zum Allgemeinen und Speziellen: vor vielen Jahren habe ich mich für ATTAC interessiert und einer Sitzung des hiesigen Ortsvereins beigewohnt. ATTAC hat mich wegen der im Namen veranlagten eindeutigen Programmatik interessiert (Zitat Wikipedia): association pour une taxation des transactions financières pour l’aide aux citoyens, dt. „Vereinigung für eine Besteuerung von Finanztransaktionen zum Nutzen der Bürger“. Das ist mal was. Leider stellte sich schnell heraus, dass es sich zumindest beim hiesigen Ortsverein um Leute handelte, die so gegen dies und das waren und irgendwelche halbwegs intelligenten Aktionen dazu veranstalteten. Warum haben diese Leute sich nicht 100% für das eingesetzt, was im Namen ihres Vereins steht und was absolut sinnvoll und erstrebenswert ist? Möglicherweise wäre es dann zu einigen der hier oft gescholtenen Nebenwirkungen des sog. „Neoliberalismus“ und „Kapitalismus“ gar nicht gekommen.

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  7. hartmut schreibt:

    Hallo Hanneswurst

    dann müsstest Du jede Naturwissenschaft für unmöglich/unplausibel erklären – die verwenden ja auch abstrakte Begriffe. tatsächlich aber operieren sie mit diesen abstrakten begriffen – nicht immer zu unserem Segen – sehr erfolgreich.

    Dein konkreter Blinddarm zB kann nur deswegen erfolgreich operiert werden, weil der Arzt, der ihn operiert, in einem Lehrbuch einiges über den abstrakten Blinddarm gelernt hat…

    Also, diese Begriffsanalyse erschließt sich mir nicht.

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  8. hanneswurst schreibt:

    Hallo Hartmut,

    natürlich hast Du Recht, sonst wäre es ja auch nicht plausibel mit Zahlen zu operieren, da diese ebenfalls abstrakt sind. Ich bekrittele ja auch nicht die grundsätzliche Anwendung abstrakter Begriffe, sondern die in der Politik so gerne betriebene Ausbeutung von Schlagworten, die ein gewisses Assoziationsbündel mit sich schleppen. „Kapitalismus“ oder (?) „Finanzkapitalismus“ gehören ganz klar zu genau solchen Schlagworten, auch wenn diese Begriffe in einem wohldefinierten Rahmen durchaus Sinn und nicht nur Polemik einbringen.

    In der Politik kann ja ruhig so vorgegangen werden, denn dort geht es darum möglichst viele Menschen zur Wahl zu motivieren, und nicht darum Probleme zu lösen. Wenn jedoch wie hier Probleme ernsthaft erörtert werden sollen – und ich hoffe dass dies der Fall ist – dann sollte dieser Begriffsmissbrauch nicht stattfinden.

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  9. genova68 schreibt:

    Hannes,

    ich finde, du verrennst dich jetzt: Hartmut definiert den Begriff „Neoliberalismus“ ganz gut, ich würde den Aspekt hinzufügen, dass der Neoliberalismus „Gemeinschaft“ zerstören will, weil die sich der Kapitalvermehrung tendenziell entgegenstellt. Gewerkschaften sind also schlecht, jeder ist am besten Freiberufler, jeder ist selbst schuld, wenn er versagt, Verbindungen werden nur noch auf Zeit für „Projekte“ eingegangen usw.

    Man könnte weitere Aspekte hinzufügen.

    Die Aussage von Silke Langenberg beruht auf einem weiteren Baustein des Neoliberalismus: „Wir müssen den Gürtel enger schnallen“. Dafür gibt es, grob gesagt, immer zwei Begründungen: Es gibt zuviele Renter und die Chinesen wachen auf. Deshalb eben Sozialkürzungen, Studiengebühren etc.
    All das ist mittlerweile so im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert, dass ich von einer Ideologie sprechen würde.

    Ich meine also nicht, dass ich hier „Begriffsmissbrauch“ betreibe, aber kein Begriff ist perfekt definiert.

    Dein Beispiel mit den Gliedmaßen: ja, sicher, aber warum sollte ich nicht verschiedene Aspekte begrifflich zusammenfassen (z.B. Neoliberalismus)? So funktioniert Erkenntnis.

    Bei deinem Attac-Verständnis herrscht ein ähnliches Missverständnis vor: Attac wurde in der Tat ursprünglich gegründet wegen der Börsensteuer. Wenn ich aber bestimmten Tendenzen in der Gesellschaft entegenwirken will, sehe ich Zusammenhänge und kann mich deshalb genauso gegen privatisierte Krankenhäuser oder für eine rekommunalisierte Energieversorgung einsetzen. Würde Attac nur für die Börsensteuer eintreten, wären sie schon längst eingegangen. Kein Mensch würde wegen dieses einen, recht langweiligen Themas bei der Stange gehalten.

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  10. genova68 schreibt:

    Hartmut, das Thema Hafenuni kenne ich nur ganz grob aus den Medien. Das mit dem Bausubstanzargument interessiert mich aber. Falls ich dazu mal etwas finde, sage ich Bescheid.

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  11. hartmut schreibt:

    Hi genova

    eine kleine sozusagen „interne“ Debatte:

    „ich würde den Aspekt hinzufügen, dass der Neoliberalismus “Gemeinschaft” zerstören will“

    das wäre eine (m.E. mehr als plausible) Folge aus dem, was Neoliberalismus ist und tut, aber nichts, was mit der Bedeutung des Begriffs „Neoliberalismus“ (die „“ sind kein Zufall!) zu tun hat. Erlaube einem halbwegs Logik-gestählten Ex-Wittgensteinianer diese „Verbesserung“.

    „kein Begriff ist perfekt definiert.“ Eben. Wie Wittgenstein es so herrlich analysierte: „Stelle Dic so in etwa hier hin“ führt zu gewissen Unschärfen, aber dass dann damit nicht „dort“ (gemeint ist: die völlig entgegegngesetzte Richtung) gemeint ist, das ist schon klar. Anderes beispiel: Was nennt man „rot“? Es gibt auch da Unschärfen. Was ist noch rot, was schon violett oder rosa? Unklar! Aber das blau, grün, gelb NICHT rot sind, das wissen wir… (selbst da gibts das Problem der Farbenblindheit, okay!)

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  12. hartmut schreibt:

    zur Hafenuni:

    http://www.zukunft-uni.hamburg.de/discoursemachine.php?page=detail&id_item=3047&menucontext=6&submenucontext=

    http://www.abendblatt.de/hamburg/article240418/Brandschutz-fuer-Philturm.html

    interessant: dass heutige brandscjutzbstimmungen etwa für sanssouci auch nicht glten – who cares!

    http://www.abendblatt.de/ratgeber/wissen/hochschule/article706851/Umbau-im-Philturm-Alle-Studenten-im-Treppenhaus.html

    inzwischen ist einiges am philturm getan worden. Dennoch wollen Auwetter-Kurz und die, die an der sahne-Lage wirtschaftlich profitieren, die Rotherbaum-Uni schlechtreden.

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  13. genova68 schreibt:

    Hartmut (9:53 Uhr),

    damit hast du sicher Recht. Ich lerne also nicht nur in deinem Blog dazu, sondern auch in deinen Beiträgen hier.
    Der hier (http://www.neo-liberalismus.de/neo-neoliberalismus.html) sieht das wesentliche Element des Neoliberalismus übrigens im Abbau von Zollschranken. Das ist wohl das effektivste Mittel, das der Neoliberalismus einsetzt. In dem Link ist auch von einem Bedeutungswandel des Begriffs die Rede. (Neoliberalismus ursprünglich als dritter Weg).

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  14. hanneswurst schreibt:

    Iiih, wie schleimig! Da sieht man mal, dass diese ganze linke Schlagwortdrescherei nur so ein leutseeliges Verbrüderungsritual ist.

    Der Kern des Neonliberalismus ist doch ganz klar der Einsatz für eine bunte Vielfalt unter den Leuchtstoffröhren. Die Neoazis wollen dagegen nur fahles, weißes Licht erlauben.

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  15. bersarin schreibt:

    „leutseelig“ schreibt man mit nur einem „e“. Es hat etymologisch nichts mit „Seelen“ – schon gar nicht mit linken – zu tun.

    Dies weiß und schreibt Oberlehrer Arnholm

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  16. genova68 schreibt:

    Neonliberalismus finde ich auch klasse. Endlich ein Begriff, den ich benutzen darf.

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